Semipalatinsk-21
Der schwarze Gefängniswagen mit zwanzig Insassen war etwa
drei Stunden unterwegs. Ich hatte den Eindruck, dass niemand von uns das Ziel
der Fahrt wusste. Es saßen überwiegend junge Häftlinge auf den Bänken und
unterhielten sich. Ich hörte niemand fragen, wohin es eigentlich geht. Ich sah
alle prüfend an und fragte meinen Nachbarn über den Grund seiner Verurteilung.
Er lächelte mich freundlich an: „Ich habe mit der Frau des ersten Sekretars
unserer Stadt geschlafen“. „Quatsch“, reagierte ich: „Wie alt sind Sie denn?“
„Einunddreißig. Doch es ist wahr. Ich war der Liebhaber dieser Frau. Ihr Mann
erwischte uns in flagranti und man verhaftete mich. In der Anklageschrift stand
Eigentumsraub. In der Urteilsbegründung steht nicht einmal, welche Gegenstände
ich entwendet haben soll“. Ich glaubte ihn nicht, aber erinnerte mich an einen
Professor unter uns, der zu drei Jahren verurteilt wurde, weil er im
betrunkenen Zustand vom Balkon seiner Wohnung uriniert hatte. Unglücklicherweise
stand unter dem Balkon die Frau eines kommunistischen Beamten und ihre Frisur
bekam einiges von der Flüssigkeit ab. Den Professortitel musste er sich
abschminken.
Die Fahrt war ziemlich holprig, rutschig und staubig. Das
kleine vergitterte Fenster gab uns einen winzigen Blick nach außen. Es
schüttelte uns ziemlich durch. Es machte mir nichts aus. Die Ungewissheit
machte mir mehr
Angst und Sorgen. Ich war nie ein Held. Ich war immer ein Angsthase gewesen. Ich kämpfte mit
der Angst und versuchte, positiv zu denken. Es gelang mir wohl selten. Was
erwartet uns am Ende dieser Fahrt? Angst verkoppel mit Neugier nagte an mich
entsetzlich. Einer der älteren Gefangenen legte seine Hand auf meine Knie und
sagte: „Es wird alles gut, junger Mann. Wir haben solche Fahrten schon öfters
erlebt. Erzähle doch, bitte, warum bist du in dieses überaus strenge Straflager
gelandet.“
Ich dachte nach und sagte: „Ich weiß es wirklich nicht.
Ich wurde verhaftet, man fragte mich über meine Vergangenheit in der Stadt
Omsk. Es waren keine konkrete Fragen. Nie befragte man mich über über
religiösen Aktivitäten. Der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter taten so,
als wenn es für sie total unwichtig war. Was konnte ich auch über meine
Vergangenheit erzählen? Es waren jugendliche Träumereien und Fantastereien von
einer heilen göttlichen Welt. Meine Freunde und ich waren in den Augen unserer
Mitmenschen hoffnungslosen Utopisten. Die Kommilitonen nahmen uns nicht ernst .
Wir glaubten an das Gute im Menschen. Wir meinten, der Mensch sei nach dem
göttlichen Ebenbild erschaffen worden, also lebt in ihm der göttliche Funke.
Wir glaubten nicht im Marxismus, sondern in Jesus Christus die Lösung aller
Probleme gefunden zu haben-das Heil der Welt, das Reich Gottes auf unserem
Planeten. Wir glaubten und glauben, dass die Entfremdung von Gott eine
Entfremdung des Menschen von seinem Selbst, seiner Mitmenschen und seiner
Umwelt ist. Unsere Welt ist doch so wunderschön und gleichzeitig herrscht in
ihr so viel Bosheit, Ungerechtigkeit, Gewalt, Perversion, Neid und Herrschsucht.
Was ich in der Gefängniszelle erlebt, war so bestialisch, das es mir den Atem
verschlug.“
„Was hast du denn erlebt?“ Der Gesprächspartner siezte
und duzte mich. Ich war jünger als sie alle. Die Gefangenen wussten nicht so
Recht, wie sie mich ansprechen sollte.
„Ein Zellengenosse hatte Analverkehr mit einem Mann. Ich
fand die exhibitionistische Handlung derart bestialisch, dass sie mir den Atem
verschlug. Unsere Haustiere haben so etwas nie getan. Der Mensch entwürdigt die
Sexualität.“
Alle hörten plötzlich aufmerksam zu. Einer der Gefangenen
fragte: „Haben Sie die Werke von Peter Tschaikowski gesehen? Und welche?“
„Schwanensee, das Ballett in 4 Akten. Die Oper „Wakula
der Schmied“ in drei Akten“ und einige Symphonien,“ antwortete ich.
„Wussten Sie, dass er homosexuell war und bevorzugte es,
mit Knaben zu treiben?“
Diese Nachricht erschlug mich endgültig. Ich kam aus
einer fantasiereichen heilen Welt, die wir uns geschaffen hatten. Nun war ich
in die reale Welt angekommen. Olgas Vater sagte einmal: „Die Sexualtriebe
sprießen aus allen Poren des menschlichen Seins und beherrschen sein Leben. Sie
unter Kontrolle zu bekommen, haben selbst biblische Männer wie Mose, die
jüdische Könige David und Salomo nicht vermocht.“ Damals ignorierte ich sein
Statement. „Ich vermag alles, durch den, der mich stark macht“ schnappten wir
bei der Bibellese auf. Später stellten wir fest, dass diese Aussage zu einer
Floskel entarten kann.
Ein Mitgefangener fragte mich plötzlich:: „Was meinen
Christen mit dem stellvertretenden Tod Christi? Es macht doch wenig Sinn, dass
Gott seinen Sohn opfert quasi zugunsten der Menschheit?“
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen und schwer
erwischt und sagte: „Die Frage beschäftigte uns auch. Die Menschwerdung Gottes
in der Gestalt Christi war seine Identifikation mit seinem Geschöpf, mit jedem
von uns. Sein in der Bibel beschriebene Kreuzestod war ein Akt seiner sich aufopfernden
Liebe zu uns. Wissen Sie, als ich den Bericht über Alexander Matrossow las,
dachte ich an Christus. Ich weiß der Vergleich hinkt, aber immerhin. Am 27.
Februar 1943 an der Kalininer Front kroch Matrossow an den Hauptbunker der
deutschen Armee-Einheit heran und warf sich mit seinem Körper vor eine
Schießscharte und fand den Tod. Danach konnte der Bunker erobert werden. So ähnlich
lässt sich der Tod Christi erklären: Er starb, damit wir durch ihn zu Gott, zu
uns selbst, zu unserer Mitmenschen finden. Wir sind von der Schuld der
Gottentfremdung befreit. Wir dürfen es in Anspruch nehmen und Gott kann eine
heile Welt mit Hilfe der glaubenden Menschheit schaffen. Christi Auferstehung
zeigt uns, dass unser Leben mit dem Tod nicht endet. Übrigens ist der
Kreuzestod Christi nur im Zusammenhang mi der Opferdarbringung von Tiere der
jüdischen Bibel, das Alte Testament verständlich. Der Hebräer opferte ein Tier
im Tempel in Stellvertretung für sein Vergehen. Ich mochte ja so meine
Haustiere und fände es schrecklich, wenn eines von ihnen meinetwegen auf einem
Opfertisch sterben müsste. Denken Sie aber an Matrossow. Er warf sich mit
seinem Körper vor eine deutsche Schießscharte. Sein Tod machte doch Sinn. Er
starb stellvertretend für viele seine Genossen, die sonst durch den Kugelhagel
der deutschen Soldaten gestorben wären. Jesus Christus tat doch vielmehr.“
Die Zuhörer konnte wohl nachvollziehen, was Matrossow
tat, aber das mit Jesus? Einer zuckte die Schulter, ein anderer dachte darüber
nach und sagte: „Es ist und bleibt ein Mysterium, sagte meine Großmutter.“
Ich schwieg eine Weile. Dann sagte ich: „Wissen Sie, ich habe schlimme Fehler
in meinem Leben als Jugendlicher begangen. Ich betreibe
keinen seelischen Striptease, wenn ich das sage. Der KGB in Omsk verlangte, dass wir Verrat an diesen Christus, seinem Auftrag begehen und
atheistische Kommunisten werden. Gerade das konnten wir nicht. Es war uns wirklich egal, welcher
der christlichen Kirche wir angehörten, aber sie sollte eine
Kirche sein, die der Freudenbotschaft Christi Treue hält. Die Menschheit
darf und kann den Weg zu Gott finden. Wir brauchen das Reich Gottes auf dieser
Erde, anderenfalls macht das christliche Leben für mich persönlich keinen Sinn.“
Die jungen intelligenten Männer wollten vieles auch über mein persönliches Leben wissen. Es war für
sie unverständlich, wieso ein zwanzigjähriger junger Mann ohne Vorstrafen in
ein Straflager mit strengem Regime gesteckt wurde. Ich hatte keine Erklärungen
für sie parat, aber ich versuchte, ihnen meine Weltsicht so plausible wie nur möglich zu
erklären.
Sie dachten nach und schwiegen. Einer von ihnen
resümierte schließlich: „Ich verstehe nun, warum man euch ins Gefängnis
gesteckt hat. Ihr stellt eine Gefahr für den atheistischen Kommunismus dar. Meines Erachtens seid ihr für die
Kommunisten gefährlicher als alle politischen Dissidenten.“
Ich verstand das nicht und zuckte die Schulter.
Die jungen Männer sprachen dann unter sich über die
Wasserstoffbombe, Kernspaltung unter anderen mehr, wovon ich kaum eine Ahnung
hatte. Die lange Fahrt, das Reden, Zuhören und eine mich beängstigte Vorahnung machten
mich schläfrig, ermüdeten mich derart, dass ich eindöste.
Ich wachte auf, als der Wagen irgendwann stehen blieb. Ich
rieb mir die Augen und gähnte. Die Tür unseres Wagens öffnete sich. Wir sahen
Soldaten Spalier stehen. „Was nun“, kam blitzartig der Gedanke. Es folgte der
Befehl, den Wagen zu verlassen. Ein Offizier führte uns durch die
Soldatenreihen zu einem Stollenmundloch des Eingangsportals in die
Unter-Tage-Welt.
„Was erwartet uns im Atomgelände von Semipalatinsk“,
flüsterte einer der jungen Männer vor sich hin. Er wusste Bescheid, wo wir
waren, ich nicht. Seine leise Stimme wurde von allen wahrgenommen. Wir schwiegen und folgten dem
Offizier. Wo waren wir genau auf der geographischen Karte? Ich hatte den Atlas
in meiner Schublade des Nachtschränkchen für vier Insassen. Dieser Ort war im
Atlas nicht auffindbar.
Viel später werde ich erfahren, dass der jeweilige Stollen im
Balaplangebiet der Degelenberge lag und für Atombombentests vorgesehen war. Wir
erreichten eine Tür zu einem Bunker. Einer von uns sagte verwundert:
„Atombunker im Stollen? Das kann ja nur immer lustiger werden!“ Der Offizier
drehte sich zu uns, guckte uns an, verzog keine Miene und drückte den weißen
Knopf neben der Bunkertür. In Kürze zeigte sich ein Mann im zivil. „Oh, nun sind sie alle
da. Gut. Kommen Sie doch alle herein“, lud er uns, wie ich meine, freundlich
und sachlich ein.
Wir sahen uns im riesigen Bunker um. Die Wände waren aus
massivem Stahlbeton. Den Wänden entlang standen Bänke, mitten Stühle, vorn ein
Tisch aus Metall, wie übrigens auch die Bänke und Stühle. Wir sollten auf den
Bänken Platz nehmen. An der Wand hinter dem Tisch war ein riesiger Bildschirm.
Alle Arbeiten und Bewegungen in diesem Stollen, eigentlich ein riesiger Tunnel,
wurden angezeigt. Der Mann im zivil drückte einen Knopf und der Bildschirm wurde schwarz.
Der Offizier setzte sich an den Tisch und übergab dem Mann im
zivill eine Mappe. Sie
sprachen leise miteinander. Wir hörten nur einige Fetzen und konzentrierten uns
auf andere Dinge, die wir interessanter empfunden haben. „Ein Bunker im
Stollen? Wozu?“ kamen immer wieder die Gedanken bei uns auf.
Wir rätselten über den hermetisch abgedichteten Bunker, der mit speziellem Luftfilter
- und wie es aussah – mit eigener Strom- und Wasserversorgung versehenen war. Denn die Luft im Bunker
war viel frischer und sauberer als im Stollen. Dies bemerkten wir sofort. Es
standen riesige Stahlschränke, auf deren Türen Beschriftungen standen „Ordner“,
„Lebensmittel“, „Geräte“ und vieles mehr.
Unsere Gedanken unterbrach der Mann in zivil: „Mein Name ist Mironow.
Sie bekommen gleich im Nebenraum Mittagessen und werden in Arbeitsgruppen
eingeteilt“. Die Nebenräume haben wir absolut nicht bemerkt. Stahltüre öffnete
sich auf Knopfdruck und wir betraten einen Essraum. Tische und Bänke wiederum
aus Metall. Auf den Tischen standen Schüssel und daneben lagen Löffel. Große
Behälter mit Suppe und Grießbrei waren auf dem Tisch. Dieser stand an der Wand
gegenüber dem Eingang. Schweigend bedienten wir uns. Währenddessen brachte ein
Mann in Militäruniform bereits geschnittene Leibe Brot und legte sie in die
Mitte der einzelne Tische.
Das Essen schmeckte ganz anders als in der Strafkolonie. Wir durften uns
bedienen so oft, wir wollten. Ich glaube, ich hatte noch nie zuvor so viel
gegessen.
Nach dem Mittagessen wurde ich einem Markscheider zugeteilt. Die
übrigen Gefangenen hatten viel bessere Bildung als ich, wie es sich
herausstellte. Sie wurden den diversen wissenschaftlichen Abteilungen
zugewiesen. Sie waren alle Atomphysiker, die in Tscheljabinsk-40, dann -65
gearbeitet hatten und sich irgendwelcher Delikte schuldig machten und nach
Semipalatinsk gebracht wurden. Ich fand es nie heraus, was diese Atomphysiker
falsch gemacht haben sollten.
Wir durften nicht miteinander über unsere Aufgaben reden.
Später haben wir erfahren, dass zehn zivile Wissenschaftler im Krankenhaus
lagen. Sie sollen an Petechien gelitten haben. Ich hörte von dieser Krankheit
von Olgas Cousine. Sie hatte punktförmige Haut- bzw. Schleimhautblutungen aus
den Kapillaren in der Haut. Ihr fielen auch bereits die Haare aus, als ich sie
das letzte Mal sah. Sie starb im Delirium in irgendeinem Krankenhaus weit weg
von unserem Ort. Sie war auf diesem Atomwaffentestgelände tätig. Ich erfuhr es nie, welche Aufgabe sie
innehatte.
Interessanterweise sah die Bevölkerung der Stadt Semipalatinsk
den hell leuchtenden Feuerball, wenn ein Atombombentest durchgeführt wurde,
aber kaum einer von uns dachte damals an irgendwelche gesundheitliche Schäden,
die durch diese Tests an uns hätten entstehen können. Proteste, wie wir sie im
Westen kennengelernt haben, gab es nicht. Dafür sorgte der Inlandgeheimdienst,
der die Bürger auf ihre Gesinnung hin streng überwachte und „rechtzeitig“ agierte,
falls jemand auch nur einen kritischen Kommentar darüber machte.
Ich hörte von unseren Glaubensgenossen aus der Stadt Omsk,
dass ihre Verwandten mit deren Familien in Tscheljabinsk-65 lebten, später
Osjorsk genannt, achtzig Kilometer von der Stadt Tscheljabinsk entfernt. Einige
arbeiteten in dem Uran-Grafit-Reaktor, andere in der radiochemischen Anlage zur
Aufbereitung des im Reaktor produzierten waffenfähiges Plutonium für die
Kernwaffenproduktion. Dass einige Zehntausende Zwangsarbeiter an den
Konstruktionsarbeiten teilgenommen hatten, war für niemand von uns ein
Geheimnis. Das gesamte Gebäude des sowjetischen Systems stand meines Erachtens
auf dem Fundament aus Knochen der Zwangsarbeiter und musste früher oder später
kollabieren. So dachte manche von uns „heimlich“, aber kaum jemand sprach diesen Gedanke
aus.
Mein Arbeitstag begann. Der Markscheider, namens Boris, war
ein sehr gut ausgebildeter Vermessungsingenieur. Er gab mir ein Nivelliergerät in die Hand, hielt selbst das
Stahlmessband in der Hand und ging voraus. Ich verstand wenig von dem
Vermessungswesen untertage, aber nach und nach erlernte ich das Risswerk.
Technische Zeichnungen waren nie meine Stärke gewesen. Aber dieser Mann brachte
es mir mit sehr großer Geduld bei. Immer wieder sagte ich ihm frustriert: „Ich
schaffe das alles nicht. Ich bin zu doof dafür“ Er antwortete: „Du bist Deutscher.
Denke an die Worte des berühmten Philosophen Immanuel Kant: Ich kann, weil ich
will, was ich muss.“
Er gab mir Mut und Zuversicht. Wir fertigten ohne
elektrooptische Streckenmessungen Pläne, Karten und sonstige Unterlagen von
Stollen bzw. Tunnels, Hohlräumen und Bohrungen an und leiteten sie weiter. Ich
fragte Boris einmal: „Warum das Ganze? Es wird ja sowieso durch die
Atombombentests alles zerstört“. Er guckte mich ernst an und antwortete: „Es
ist hier nicht der Ort, Fragen zu stellen.“ Boris war sehr zurückhaltend,
wirkte auf mich introvertiert (in sich gekehrt), wortkarg, aber sehr
pflichtbewusst.
Es war für mich ein Übungsfeld, Messungen diverser Tunnele und Bohrlöcher mit
Boris durchzuführen und mit niemand darüber zu sprechen. Unterwegs zurück in
die Zone forschte ich meine Kumpel in Bezug auf ihre Ausbildung aus. Sie bestätigten
mir, Atomphysiker zu sein. Wir wurden gute Freunde. Die prekäre Situation hat uns
zusammengeschweißt. Die Männer erzählten mir aus ihrem Leben nichts. Sie
wahrten Diskretion und forschten mich nie aus über die Gemeindetätigkeiten am Ort. Sie wussten,
dass wir abgehört wurden.
Eines Tages kamen wir von der Arbeit in die Strafkolonie und auf die Atomphysiker warteten
einige Offiziere des Innenministeriums. Sie mussten ihre Sachen packen,
umarmten mich und gingen mit den Offizieren zum Tor. Es war bereits spät
abends. Einer von ihnen sagte mir: „Schön, dass du an die Heile Welt glaubst. Ich
kann als Physiker das nicht. Möge dein Gott dich schützen.“ Mir standen die
Tränen in den Augen. Ich mochte Trennungen von Freunden nie. Ich winkte ihnen zu und
seitdem sah ich sie nie wieder.
An diesem späten Abend wurden Nikolai und ich aufgerufen, uns
zur Abreise noch in dieser Nacht bereitzuhalten. Wir mussten von unseren
Glaubensgenossen Abschied nehmen.
Man lebte als Häftling immer in der Ungewissheit. Wohin wird
man gebracht? Wie werden die Umstände dort sein? Was erwartet uns dort? Die
Verabschiedung auch von den „Mitinsassen“ war erstaunlicherweise herzlich.
Einer der Häftlinge namens Michael, der nichts mit dem Glauben am Hut hatte,
hielt mich lange in den Armen fest und weinte bitterlich. Ich war total
perplex.
„Ich werde hier verrotten, aber ihr habt mir Mut gemacht,
weiterzuleben und Gott zu vertrauen!“ Ich guckte ihn irgendwie verloren an und
sagte zögerlich: „Wir haben nie mit Ihnen über Gott geredet!“
Er antwortete: „Euer Leben schrieb Bände und ich danke euch
dafür!“
Ich bat Iwan, Sergej,
Athanasius und Viktor, mit ihm Gemeinschaft zu pflegen. Jedoch auch Viktor und
Sergej mussten bald Abschied nehmen. Sie kamen in andere Straflager. Der alte
Reformadventist Iwan Lalujew, Athanasius und einige gläubig gewordene Häftlinge
blieben zurück.
Iwan kam nie frei. Er bekam einen Schlaganfall. Athanasius und Michael standen
am Sterbebett von Iwan, hielten seine Hände und beteten. Iwan erholte sich nie.
Er starb um Mitternacht.
Michael hatte keine
Verwandte und schrieb mir zwei Briefe. Er beschrieb alle Umstände, unter
welchen Iwan gelitten und gestorben war. Michael erkrankte an Lungenkrebs und verstarb im Straflager
von Semipalatinsk.
Nach meiner Entlassung suchte ich die Gräber von Iwan und Michael. Ich fand sie
nicht. Auf meine Anfrage hin bekam ich vom Innenministerium die Nachricht, die Häftlinge wären beerdigt worden an einem unbekannten Ort.