Mittwoch, 6. März 2013

Semipalatinsk-21


Semipalatinsk-21

Der schwarze Gefängniswagen mit zwanzig Insassen war etwa drei Stunden unterwegs. Ich hatte den Eindruck, dass niemand von uns das Ziel der Fahrt wusste. Es saßen überwiegend junge Häftlinge auf den Bänken und unterhielten sich. Ich hörte niemand fragen, wohin es eigentlich geht. Ich sah alle prüfend an und fragte meinen Nachbarn über den Grund seiner Verurteilung. Er lächelte mich freundlich an: „Ich habe mit der Frau des ersten Sekretars unserer Stadt geschlafen“. „Quatsch“, reagierte ich: „Wie alt sind Sie denn?“ „Einunddreißig. Doch es ist wahr. Ich war der Liebhaber dieser Frau. Ihr Mann erwischte uns in flagranti und man verhaftete mich. In der Anklageschrift stand Eigentumsraub. In der Urteilsbegründung steht nicht einmal, welche Gegenstände ich entwendet haben soll“. Ich glaubte ihn nicht, aber erinnerte mich an einen Professor unter uns, der zu drei Jahren verurteilt wurde, weil er im betrunkenen Zustand vom Balkon seiner Wohnung uriniert hatte. Unglücklicherweise stand unter dem Balkon die Frau eines kommunistischen Beamten und ihre Frisur bekam einiges von der Flüssigkeit ab. Den Professortitel musste er sich abschminken.

Die Fahrt war ziemlich holprig, rutschig und staubig. Das kleine vergitterte Fenster gab uns einen winzigen Blick nach außen. Es schüttelte uns ziemlich durch. Es machte mir nichts aus. Die Ungewissheit machte mir mehr Angst und Sorgen. Ich war nie ein Held. Ich war immer ein Angsthase gewesen. Ich kämpfte mit der Angst und versuchte, positiv zu denken. Es gelang mir wohl selten. Was erwartet uns am Ende dieser Fahrt? Angst verkoppel mit Neugier nagte an mich entsetzlich. Einer der älteren Gefangenen legte seine Hand auf meine Knie und sagte: „Es wird alles gut, junger Mann. Wir haben solche Fahrten schon öfters erlebt. Erzähle doch, bitte, warum bist du in dieses überaus strenge Straflager gelandet.“

Ich dachte nach und sagte: „Ich weiß es wirklich nicht. Ich wurde verhaftet, man fragte mich über meine Vergangenheit in der Stadt Omsk. Es waren keine konkrete Fragen. Nie befragte man mich über über religiösen Aktivitäten. Der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter taten so, als wenn es für sie total unwichtig war. Was konnte ich auch über meine Vergangenheit erzählen? Es waren jugendliche Träumereien und Fantastereien von einer heilen göttlichen Welt. Meine Freunde und ich waren in den Augen unserer Mitmenschen hoffnungslosen Utopisten. Die Kommilitonen nahmen uns nicht ernst . Wir glaubten an das Gute im Menschen. Wir meinten, der Mensch sei nach dem göttlichen Ebenbild erschaffen worden, also lebt in ihm der göttliche Funke. Wir glaubten nicht im Marxismus, sondern in Jesus Christus die Lösung aller Probleme gefunden zu haben-das Heil der Welt, das Reich Gottes auf unserem Planeten. Wir glaubten und glauben, dass die Entfremdung von Gott eine Entfremdung des Menschen von seinem Selbst, seiner Mitmenschen und seiner Umwelt ist. Unsere Welt ist doch so wunderschön und gleichzeitig herrscht in ihr so viel Bosheit, Ungerechtigkeit, Gewalt, Perversion, Neid und Herrschsucht. Was ich in der Gefängniszelle erlebt, war so bestialisch, das es mir den Atem verschlug.“

„Was hast du denn erlebt?“ Der Gesprächspartner siezte und duzte mich. Ich war jünger als sie alle. Die Gefangenen wussten nicht so Recht, wie sie mich ansprechen sollte.

„Ein Zellengenosse hatte Analverkehr mit einem Mann. Ich fand die exhibitionistische Handlung derart bestialisch, dass sie mir den Atem verschlug. Unsere Haustiere haben so etwas nie getan. Der Mensch entwürdigt die Sexualität.“

Alle hörten plötzlich aufmerksam zu. Einer der Gefangenen fragte: „Haben Sie die Werke von  Peter Tschaikowski gesehen? Und welche?“
„Schwanensee, das Ballett in 4 Akten. Die Oper „Wakula der Schmied“ in drei Akten“ und einige Symphonien,“ antwortete ich.

„Wussten Sie, dass er homosexuell war und bevorzugte es, mit Knaben zu treiben?“
Diese Nachricht erschlug mich endgültig. Ich kam aus einer fantasiereichen heilen Welt, die wir uns geschaffen hatten. Nun war ich in die reale Welt angekommen. Olgas Vater sagte einmal: „Die Sexualtriebe sprießen aus allen Poren des menschlichen Seins und beherrschen sein Leben. Sie unter Kontrolle zu bekommen, haben selbst biblische Männer wie Mose, die jüdische Könige David und Salomo nicht vermocht.“ Damals ignorierte ich sein Statement. „Ich vermag alles, durch den, der mich stark macht“ schnappten wir bei der Bibellese auf. Später stellten wir fest, dass diese Aussage zu einer Floskel entarten kann.

Ein Mitgefangener fragte mich plötzlich:: „Was meinen Christen mit dem stellvertretenden Tod Christi? Es macht doch wenig Sinn, dass Gott seinen Sohn opfert quasi zugunsten der Menschheit?“

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen und schwer erwischt und sagte: „Die Frage beschäftigte uns auch. Die Menschwerdung Gottes in der Gestalt Christi war seine Identifikation mit seinem Geschöpf, mit jedem von uns. Sein in der Bibel beschriebene Kreuzestod war ein Akt seiner sich aufopfernden Liebe zu uns. Wissen Sie, als ich den Bericht über Alexander Matrossow las, dachte ich an Christus. Ich weiß der Vergleich hinkt, aber immerhin. Am 27. Februar 1943 an der Kalininer Front kroch Matrossow an den Hauptbunker der deutschen Armee-Einheit heran und warf sich mit seinem Körper vor eine Schießscharte und fand den Tod. Danach konnte der Bunker erobert werden. So ähnlich lässt sich der Tod Christi erklären: Er starb, damit wir durch ihn zu Gott, zu uns selbst, zu unserer Mitmenschen finden. Wir sind von der Schuld der Gottentfremdung befreit. Wir dürfen es in Anspruch nehmen und Gott kann eine heile Welt mit Hilfe der glaubenden Menschheit schaffen. Christi Auferstehung zeigt uns, dass unser Leben mit dem Tod nicht endet. Übrigens ist der Kreuzestod Christi nur im Zusammenhang mi der Opferdarbringung von Tiere der jüdischen Bibel, das Alte Testament verständlich. Der Hebräer opferte ein Tier im Tempel in Stellvertretung für sein Vergehen. Ich mochte ja so meine Haustiere und fände es schrecklich, wenn eines von ihnen meinetwegen auf einem Opfertisch sterben müsste. Denken Sie aber an Matrossow. Er warf sich mit seinem Körper vor eine deutsche Schießscharte. Sein Tod machte doch Sinn. Er starb stellvertretend für viele seine Genossen, die sonst durch den Kugelhagel der deutschen Soldaten gestorben wären. Jesus Christus tat doch vielmehr.“

Die Zuhörer konnte wohl nachvollziehen, was Matrossow tat, aber das mit Jesus? Einer zuckte die Schulter, ein anderer dachte darüber nach und sagte: „Es ist und bleibt ein Mysterium, sagte meine Großmutter.“
Ich schwieg eine Weile. Dann sagte ich: „Wissen Sie, ich habe schlimme Fehler in meinem Leben als Jugendlicher begangen. Ich betreibe keinen seelischen Striptease, wenn ich das sage. Der KGB in Omsk verlangte, dass wir Verrat an diesen Christus, seinem Auftrag begehen und atheistische Kommunisten werden. Gerade das konnten wir nicht. Es war uns wirklich egal, welcher der christlichen Kirche wir angehörten, aber sie sollte eine Kirche sein, die der Freudenbotschaft Christi Treue hält. Die Menschheit darf und kann den Weg zu Gott finden. Wir brauchen das Reich Gottes auf dieser Erde, anderenfalls macht das christliche Leben für mich persönlich keinen Sinn.“

Die jungen intelligenten Männer wollten vieles auch über mein persönliches Leben wissen. Es war für sie unverständlich, wieso ein zwanzigjähriger junger Mann ohne Vorstrafen in ein Straflager mit strengem Regime gesteckt wurde. Ich hatte keine Erklärungen für sie parat, aber ich versuchte, ihnen meine Weltsicht so plausible wie nur möglich zu erklären.

Sie dachten nach und schwiegen. Einer von ihnen resümierte schließlich: „Ich verstehe nun, warum man euch ins Gefängnis gesteckt hat. Ihr stellt eine Gefahr für den atheistischen Kommunismus dar. Meines Erachtens seid ihr für die Kommunisten gefährlicher als alle politischen Dissidenten.“
Ich verstand das nicht und zuckte die Schulter.

Die jungen Männer sprachen dann unter sich über die Wasserstoffbombe, Kernspaltung unter anderen mehr, wovon ich kaum eine Ahnung hatte. Die lange Fahrt, das Reden, Zuhören und eine mich beängstigte Vorahnung machten mich schläfrig, ermüdeten mich derart, dass ich eindöste.
Ich wachte auf, als der Wagen irgendwann stehen blieb. Ich rieb mir die Augen und gähnte. Die Tür unseres Wagens öffnete sich. Wir sahen Soldaten Spalier stehen. „Was nun“, kam blitzartig der Gedanke. Es folgte der Befehl, den Wagen zu verlassen. Ein Offizier führte uns durch die Soldatenreihen zu einem Stollenmundloch des Eingangsportals in die Unter-Tage-Welt.

„Was erwartet uns im Atomgelände von Semipalatinsk“, flüsterte einer der jungen Männer vor sich hin. Er wusste Bescheid, wo wir waren, ich nicht. Seine leise Stimme wurde von allen wahrgenommen. Wir schwiegen und folgten dem Offizier. Wo waren wir genau auf der geographischen Karte? Ich hatte den Atlas in meiner Schublade des Nachtschränkchen für vier Insassen. Dieser Ort war im Atlas nicht auffindbar.
Viel später werde ich erfahren, dass der jeweilige Stollen im Balaplangebiet der Degelenberge lag und für Atombombentests vorgesehen war. Wir erreichten eine Tür zu einem Bunker. Einer von uns sagte verwundert: „Atombunker im Stollen? Das kann ja nur immer lustiger werden!“ Der Offizier drehte sich zu uns, guckte uns an, verzog keine Miene und drückte den weißen Knopf neben der Bunkertür. In Kürze zeigte sich ein Mann im zivil. „Oh, nun sind sie alle da. Gut. Kommen Sie doch alle herein“, lud er uns, wie ich meine, freundlich und sachlich ein.

Wir sahen uns im riesigen Bunker um. Die Wände waren aus massivem Stahlbeton. Den Wänden entlang standen Bänke, mitten Stühle, vorn ein Tisch aus Metall, wie übrigens auch die Bänke und Stühle. Wir sollten auf den Bänken Platz nehmen. An der Wand hinter dem Tisch war ein riesiger Bildschirm. Alle Arbeiten und Bewegungen in diesem Stollen, eigentlich ein riesiger Tunnel, wurden angezeigt. Der Mann im zivil drückte einen Knopf und der Bildschirm wurde schwarz.

Der Offizier setzte sich an den Tisch und übergab dem Mann im zivill eine Mappe. Sie sprachen leise miteinander. Wir hörten nur einige Fetzen und konzentrierten uns auf andere Dinge, die wir interessanter empfunden haben. „Ein Bunker im Stollen? Wozu?“ kamen immer wieder die Gedanken bei uns auf.
Wir rätselten über den hermetisch abgedichteten Bunker, der mit speziellem Luftfilter - und wie es aussah – mit eigener Strom- und Wasserversorgung versehenen war. Denn die Luft im Bunker war viel frischer und sauberer als im Stollen. Dies bemerkten wir sofort. Es standen riesige Stahlschränke, auf deren Türen Beschriftungen standen „Ordner“, „Lebensmittel“, „Geräte“ und vieles mehr.

Unsere Gedanken unterbrach der Mann in zivil: „Mein Name ist Mironow. Sie bekommen gleich im Nebenraum Mittagessen und werden in Arbeitsgruppen eingeteilt“. Die Nebenräume haben wir absolut nicht bemerkt. Stahltüre öffnete sich auf Knopfdruck und wir betraten einen Essraum. Tische und Bänke wiederum aus Metall. Auf den Tischen standen Schüssel und daneben lagen Löffel. Große Behälter mit Suppe und Grießbrei waren auf dem Tisch. Dieser stand an der Wand gegenüber dem Eingang. Schweigend bedienten wir uns. Währenddessen brachte ein Mann in Militäruniform bereits geschnittene Leibe Brot und legte sie in die Mitte der einzelne Tische. Das Essen schmeckte ganz anders als in der Strafkolonie. Wir durften uns bedienen so oft, wir wollten. Ich glaube, ich hatte noch nie zuvor so viel gegessen.

Nach dem Mittagessen wurde ich einem Markscheider zugeteilt. Die übrigen Gefangenen hatten viel bessere Bildung als ich, wie es sich herausstellte. Sie wurden den diversen wissenschaftlichen Abteilungen zugewiesen. Sie waren alle Atomphysiker, die in Tscheljabinsk-40, dann -65 gearbeitet hatten und sich irgendwelcher Delikte schuldig machten und nach Semipalatinsk gebracht wurden. Ich fand es nie heraus, was diese Atomphysiker falsch gemacht haben sollten.

Wir durften nicht miteinander über unsere Aufgaben reden. Später haben wir erfahren, dass zehn zivile Wissenschaftler im Krankenhaus lagen. Sie sollen an Petechien gelitten haben. Ich hörte von dieser Krankheit von Olgas Cousine. Sie hatte punktförmige Haut- bzw. Schleimhautblutungen aus den Kapillaren in der Haut. Ihr fielen auch bereits die Haare aus, als ich sie das letzte Mal sah. Sie starb im Delirium in irgendeinem Krankenhaus weit weg von unserem Ort. Sie war auf diesem Atomwaffentestgelände tätig. Ich erfuhr es nie, welche Aufgabe sie innehatte.

Interessanterweise sah die Bevölkerung der Stadt Semipalatinsk den hell leuchtenden Feuerball, wenn ein Atombombentest durchgeführt wurde, aber kaum einer von uns dachte damals an irgendwelche gesundheitliche Schäden, die durch diese Tests an uns hätten entstehen können. Proteste, wie wir sie im Westen kennengelernt haben, gab es nicht. Dafür sorgte der Inlandgeheimdienst, der die Bürger auf ihre Gesinnung hin streng überwachte und „rechtzeitig“ agierte, falls jemand auch nur einen kritischen Kommentar darüber machte.
Ich hörte von unseren Glaubensgenossen aus der Stadt Omsk, dass ihre Verwandten mit deren Familien in Tscheljabinsk-65 lebten, später Osjorsk genannt, achtzig Kilometer von der Stadt Tscheljabinsk entfernt. Einige arbeiteten in dem Uran-Grafit-Reaktor, andere in der radiochemischen Anlage zur Aufbereitung des im Reaktor produzierten waffenfähiges Plutonium für die Kernwaffenproduktion. Dass einige Zehntausende Zwangsarbeiter an den Konstruktionsarbeiten teilgenommen hatten, war für niemand von uns ein Geheimnis. Das gesamte Gebäude des sowjetischen Systems stand meines Erachtens auf dem Fundament aus Knochen der Zwangsarbeiter und musste früher oder später kollabieren. So dachte manche von uns „heimlich“, aber kaum jemand sprach diesen Gedanke aus.

Mein Arbeitstag begann. Der Markscheider, namens Boris, war ein sehr gut ausgebildeter Vermessungsingenieur. Er gab mir ein Nivelliergerät in die Hand, hielt selbst das Stahlmessband in der Hand und ging voraus. Ich verstand wenig von dem Vermessungswesen untertage, aber nach und nach erlernte ich das Risswerk. Technische Zeichnungen waren nie meine Stärke gewesen. Aber dieser Mann brachte es mir mit sehr großer Geduld bei. Immer wieder sagte ich ihm frustriert: „Ich schaffe das alles nicht. Ich bin zu doof dafür“ Er antwortete: „Du bist Deutscher. Denke an die Worte des berühmten Philosophen Immanuel Kant: Ich kann, weil ich will, was ich muss.

Er gab mir Mut und Zuversicht. Wir fertigten ohne elektrooptische Streckenmessungen Pläne, Karten und sonstige Unterlagen von Stollen bzw. Tunnels, Hohlräumen und Bohrungen an und leiteten sie weiter. Ich fragte Boris einmal: „Warum das Ganze? Es wird ja sowieso durch die Atombombentests alles zerstört“. Er guckte mich ernst an und antwortete: „Es ist hier nicht der Ort, Fragen zu stellen.“ Boris war sehr zurückhaltend, wirkte auf mich introvertiert (in sich gekehrt), wortkarg, aber sehr pflichtbewusst.
Es war für mich ein Übungsfeld, Messungen diverser Tunnele und Bohrlöcher mit Boris durchzuführen und mit niemand darüber zu sprechen. Unterwegs zurück in die Zone forschte ich meine Kumpel in Bezug auf ihre Ausbildung aus. Sie bestätigten mir, Atomphysiker zu sein. Wir wurden gute Freunde. Die prekäre Situation hat uns zusammengeschweißt. Die Männer erzählten mir aus ihrem Leben nichts. Sie wahrten Diskretion und forschten mich nie aus über die Gemeindetätigkeiten am Ort. Sie wussten, dass wir abgehört wurden.
Eines Tages kamen wir von der Arbeit  in die Strafkolonie und auf die Atomphysiker warteten einige Offiziere des Innenministeriums. Sie mussten ihre Sachen packen, umarmten mich und gingen mit den Offizieren zum Tor. Es war bereits spät abends. Einer von ihnen sagte mir: „Schön, dass du an die Heile Welt glaubst. Ich kann als Physiker das nicht. Möge dein Gott dich schützen.“ Mir standen die Tränen in den Augen. Ich mochte Trennungen von Freunden nie. Ich winkte ihnen zu und seitdem sah ich sie nie wieder.
An diesem späten Abend wurden Nikolai und ich aufgerufen, uns zur Abreise noch in dieser Nacht bereitzuhalten. Wir mussten von unseren Glaubensgenossen Abschied nehmen.

Man lebte als Häftling immer in der Ungewissheit. Wohin wird man gebracht? Wie werden die Umstände dort sein? Was erwartet uns dort? Die Verabschiedung auch von den „Mitinsassen“ war erstaunlicherweise herzlich. Einer der Häftlinge namens Michael, der nichts mit dem Glauben am Hut hatte, hielt mich lange in den Armen fest und weinte bitterlich. Ich war total perplex.

„Ich werde hier verrotten, aber ihr habt mir Mut gemacht, weiterzuleben und Gott zu vertrauen!“ Ich guckte ihn irgendwie verloren an und sagte zögerlich: „Wir haben nie mit Ihnen über Gott geredet!“
Er antwortete: „Euer Leben schrieb Bände und ich danke euch dafür!“

 Ich bat Iwan, Sergej, Athanasius und Viktor, mit ihm Gemeinschaft zu pflegen. Jedoch auch Viktor und Sergej mussten bald Abschied nehmen. Sie kamen in andere Straflager. Der alte Reformadventist Iwan Lalujew, Athanasius und einige gläubig gewordene Häftlinge blieben zurück. Iwan kam nie frei. Er bekam einen Schlaganfall. Athanasius und Michael standen am Sterbebett von Iwan, hielten seine Hände und beteten. Iwan erholte sich nie. Er starb um Mitternacht.

 Michael hatte keine Verwandte und schrieb mir zwei Briefe. Er beschrieb alle Umstände, unter welchen Iwan gelitten und gestorben war. Michael  erkrankte an Lungenkrebs und verstarb im Straflager von Semipalatinsk. Nach meiner Entlassung suchte ich die Gräber von Iwan und Michael. Ich fand sie nicht. Auf meine Anfrage hin bekam ich vom Innenministerium die Nachricht, die Häftlinge wären beerdigt worden an einem unbekannten Ort.