Mittwoch, 19. Dezember 2012

Das Theologische Seminar Moskau setzt künftig auf Altes


Hundertprozentige Einstellungsraten
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Das Theologische Seminar Moskau setzt künftig auf Altes

M o s k a u -- Die Bildungslokomotive der “Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten (RUECB), das „Theologische Seminar Moskau“, kehrt zu den ursprünglichen Formen zurück. Gegründet 1968 als baptistische Korrespondenzschule, agierte es später unter dem Namen „Theologisches Institut Moskau (MTI). Offensichtlich weil westlichen Förderern kein anderes Modell vertraut war, wurde 1993 ein campus-bezogenes, stationäres Angebot hinzugefügt. Die neue Einrichtung nannte sich „Theologisches Seminar Moskau“ (MTS). 

Ein Gründer des MTS räumt heute ein: „Wir riefen ein dreijähriges Studium ins Leben, das eventuell scheiterte – wie praktisch alle anderen stationären, theologischen Studiengänge in den GUS-Staaten. Das hing mit den Kosten zusammen. Wie sollten Studenten drei Jahre lang ohne jegliche finanzielle Basis auskommen? Das stationäre Modell ist sehr teuer und bald hatten wir kaum noch Studenten.“ Folglich wurden 2007 das MTI und sein Fernstudium ins MTS integriert. Danach schnellten die Studentenzahlen in die Höhe: von 251 im Jahre 2007 auf 975 heute. Das führt den Beweis dafür, daß das ursprüngliche Fernstudienprogramm auf die russischen Bedingungen abgestimmt war – daß es mehr war als nur das ungeliebte Geschenk eines atheistischen Staates.

Das heutige MTS verteilt sich auf nahezu das gesamte Territorium Rußlands. Fünf seiner neun „Studienzentren“ (Learning Centres) bilden eine horizontale Linie von Moskau im Westen bis Chabarowsk im Osten an der Grenze zur Ost-Mandschurei. Die durchschnittliche Entfernung zwischen den fünf Zentren beträgt fast 1.600 km; Chabarowsk liegt 6.147 km östlich von Moskau. Die gleiche Entfernung westwärts von Moskau würde bedeuten, daß das MTS in Sydney/Neuschottland (Kanada) ein Studienzentrum hätte.

Nur in Moskau besitzt das MTS eigene Gebäude. Wie überhaupt in der Gesellschaft ist die Studentenverteilung ungleichmäßig: Allein im Moskauer Raum hat das MTS 500 Studenten; weitere 225 befinden sich im Nordkaukasus. Die Studienzentren weiter östlich haben durchschnittlich 25 bis 40 Studenten. Zwei der Zentren (Nordkaukasus und Chabarowsk) waren anfangs eigenständige Einrichtungen. Beide Zentren verfügen über Lehrkräfte, die nicht in Moskau ansässig sind. Chabarowsk hatte nur noch neun Studenten als es vor wenigen Jahren vom MTS übernommen wurde - dessen Zahl beträgt heute 60.

Pastorendienst und christliche Erziehung sind die üblichen Studiengänge des MTS. Die meisten Programme sind eigentlich Mischformen, die aus einer Kombination von Fern- und ortgebundenem Studium bestehen. Der Bachelor-Abschluß verlangt zwei Aufenthalte in einem Studienzentrum von jeweils zwei Wochen pro Jahr in einem fünfjährigen Studiengang; der Magister-Abschluß verlangt dreiwöchige Aufenthalte. Doch viele Lehrgänge mit einem Zertifikat zum Abschluß dauern nur ein Jahr oder sogar eine einzige Woche. Einige Kurse werden ausschließlich on-line durchgeführt.

Ein Fernstudium läßt sich äußerst flexible gestalten. Rektor Dr. Peter Mitskewitsch, ein Arzt mit einem theologischen Abschluß aus USA, besteht darauf, daß seine Einrichtung „verschiedene Studiengänge anbietet, um die Bedürfnisse der Gemeinden besser befriedigen zu können“. Ein neuer Studiengang in Moskau ist auf die Direktoren von Reha-Zentren für Suchtkranke zugeschnitten. Ein MTS-Mitarbeiter berichtet: „Diese Direktoren habe im Umgang mit Menschen eine Menge Erfahrungen gesammelt – doch Null-Ausbildung in Sachen Theologie.“ Dieses Programm besteht aus etwa 15 in sich geschlossenen Modulen. So kann der Lernende beispielsweise mit Modul 8 einsteigen und mit Modul 7 aufhören – ein Einstieg ist jederzeit möglich.

Weitere neue Studiengänge umfassen die christliche Seelsorge, Gemeindeverwaltung, digitale Medien und die Beziehungen zwischen Kirche und Staat. Ein Kurs zur Seelsorge wird an einem 10. Ort angeboten: St. Petersburg. Die jüngsten Studenten sind in einem Programm für Gemeindejugendleiter zu finden.

Die Stärken
Fernstudium und dessen Mischformen lösen viele der Probleme, die mit einem campus-gebundenen Studium zusammenhängen. Seit langem benutzen Studenten aus den Zweiten und Dritten Welten kirchliche Stipendien, um sich von ungeliebten ländlichen Gegenden und Staaten zu befreien. Das ist natürlich das genaue Gegenteil von dem, was diese Förderung beabsichtigte. Ein leitender Pastor berichtet: „Unsere Gemeinden haben ständig Angst, die besten und begabtesten Jugendlichen zu verlieren. Wenn wir die Pastoren nun vor Ort ausbilden können, müssen deren Familien nicht aus der vertrauten Umgebung gerissen werden und sie selbst auf Gemeindedienste und Arbeitsstellen verzichten.“

Ein Fernstudium ist praxisbezogen. Die Chancen, daß sich ein Student in einem akademischen Elfenbeinturm verliert, der sich weitab vom Leben und Denken arbeitender Sterblicher befindet, sind minimal. Ein Förderer berichtet: „Nach diesem Modell ist man bereits mit der praktischen Gemeindearbeit befaßt – im Studium gibt es keinen großen Bruch. Das Gesprächsniveau im Plenum mit bestandenen Pastoren ist völlig anders als bei 18- bis 20-jährigen Anfängern.“

Ein US-Amerikaner berichtet: “Im Westen fragen mich Leute nach der Erfolgsrate bei der Einstellung von MTS-Absolventen. Ich erwidere: `Einhundert-Prozent!´ Mehr als 90 Prozent unserer Studenten sind bereits dienstlich aktiv. Das ist ganz anders in Nordamerika, wo ein junger Mensch ein Seminarstudium aufnimmt in der Hoffnung, daß es hinterher auch irgendwie klappt.“

Rektor Mitskewitsch weist darauf hin, daß protestantische Theologiestudenten eindeutig älter ausfallen, weil es sich in Rußland um einen Nebenberuf handelt. „Die große Mehrheit wird zuerst eine weltliche Hochschule aufsuchen. Sie werden Ingenieure, Ärzte oder Manager. Wenn Gott tatsächlich dabei ist, sie in den kirchlichen Dienst zu rufen, werden sie danach im Gemeindedienst ihre Fähigkeiten ausprobieren. Erst dann fängt das Theologiestudium an.“ Er fährt fort: “Das Ganze muß Schritt-für-Schritt erfolgen. Erst seit 20 Jahren haben wir die Freiheit – die Gemeinden brauchen Zeit für den Reifungsprozeß. Eine geeignete Versammlungsstätte und der Beginn von Gemeindediensten sind die höchsten Prioritäten. Erst viel später wird der Dienst eines hauptberuflichen Pastors erfolgen.“ Das Fernstudium „paßt zu unseren ökonomischen und geographischen Bedingungen“. Es sei sogar der einzige Weg, Lernwillige in abgelegenen Gebieten zu erreichen.

Studenten bezahlen Reisekosten sowie 10% der Studiengebühren aus eigener Tasche. Spenden aus Rußland decken 30% des Gesamt-Etats. Die zunehmende Besitzannahme seitens der Gemeinden ist wohl darauf zurückzuführen, daß es sich um ein bezahlbares Modell handelt. Sei es jedoch nicht höchst stressig, einen Dozenten ständig auf die Reise zu bis zu neun Studienzentren zu schicken? „Sicherlich“, räumt der Rektor ein. „Doch ist es nicht empfehlenswerter (und preiswerter), als etwa 29 Studenten zu uns zu holen?“

Das Modell Fernstudium ist zukunftsweisend nicht nur weil die Kosten des stationären Studiums in den westlichen Ländern in den Himmel steigen. Die heutige Jugend fängt schon in der Krippe mit dem Computer an und deren Fähigkeiten zur Handhabung von Computern werden weiterhin ansteigen.

Man könnte behaupten, die Kirche der Sowjetära sei äußerst zukunftsträchtig gewesen als sie 1968 mit Korrespondenzkursen anfing. Doch gleichzeitig räumt Mitskewitsch ein, das MTS biete das an, was die englischsprachige Welt schon lange zu bieten hat: eine breite Palette theologischer On-Line-Kurse für jeden Geschmack. „Aber wir bleiben eine russischsprachige Einrichtung und uns fällt die Aufgabe zu, Studenten egal wo auch immer russischsprachige Kurse anzubieten.“ Das MTS hat bereits ein paar Studenten in den USA, Australien und Deutschland, die zweimal jährlich zu den Plenarsitzungen nach Rußland reisen. Der Rektor ist auch offen für neue Theologiekurse in einem einfachen Russisch, die sich an Studenten ohne russische Muttersprache richten.

Die Nachteile
Stehen die Studieneinrichtungen der russischen Protestanten in Gefahr, als „Diplommühlen“ ohne jeglichen wissenschaftlichen Anspruch zu fungieren? Michail Newolin, ein baptistischer Theologe aus Sankt Petersburg, stellt fest, daß nur sehr wenige von ihnen die Etikette “Universität” oder “Seminar” verdienen. Mit der wissenschaftlichen Rigorosität eines Studiums an westlichen Seminaren kann ein Fernstudium in Rußland nicht mithalten. Doch andersherum setzen die russischen Programme keinen gewaltigen Sprung voraus und befinden sich dicht an der pastoralen Arbeit vor Ort.

Rektor Mitskewitsch ist davon überzeugt, daß sein neuer Dekan, Pastor Gennadi Sergienko, für die Qualitätskontrolle sorgen werde. Im Jahre 2011 promovierte er im Fach Neues Testament am renommierten, kalifornischen “Fuller Theological Seminary”. Mitskewitsch berichtet, daß bereits die Mehrheit der Fakultätsmitglieder den Doktor-Titel trägt. In den letzten vier Jahren ist es zur Praxis geworden, die letzten, mündlichen Abschlußprüfungen allein in Moskau durchzuführen. Das trägt dazu bei, die akademischen Erwartungen für alle Studierenden auf ein einheitliches Niveau zu bringen.

Ehemalige Suchtkranke bilden einen bedeutenden Teil der Studenten an den evangelischen Seminaren Rußlands. Da sie selten aus den oberen Gesellschaftsschichten stammen, sorgen sich Beobachter um das geistige Niveau von Seminaren und dem Gemeindeleben überhaupt. „Das spiegelt nur die demoskopische Realität der Gesellschaft wider“, wirft ein Amerikaner ein. „Handbücher geben an, daß 40% aller russischen Männer unter Suchtmittelmißbrauch (vor allem Alkoholismus) leiden.“

Beim Fernstudium kommt das Geben-und-Nehmen im Plenum zu kurz. Die zweiwöchigen Aufenthalte in den Studienzentren, informelle Chatrooms und Email sollen dem Problem beikommen. Dekan Sergienko räumt ein, er träume weiterhin von dem Zeitpunkt, an dem ein längerfristiges, stationäres Studium möglich wird. „Jeder Ansatz hat Vor- und Nachteile“, versichert Peter Mitskewitsch. „Doch in der jetzigen Phase unserer Entwicklung ist der eingeschlagene Weg eindeutig der beste.“

Zu den weiteren Bildungseinrichtungen, die mit der RUECB assoziiert sind, gehören ein Seminar bei Nowosibirsk sowie eine “Predigerschule” in Samara/Wolga.

Dr.phil. William Yoder
Moskau, den 19. Dezember 2012

Dienstag, 18. Dezember 2012

Ein Sprung in meine Kindheit: Naturverbunden


Hermann Hartfeld (1962)

Ein Sprung in meine Kindheit

Naturverbunden

Ich erinnere mich nur vage an die gesamte Kindheit. Ich weiß, dass ich meistens tränenüberströmt war, wenn ich Heißhunger empfunden hatte. An Hunger konnte ich mich gewöhnen und an Magenknurren auch. Jedoch, der plötzliche Anflug von Heißhunger, der einsetzende extreme Drang, nach sofortiger Nahrungsaufnahme und die damit verbundenen Schweißausbrüche und das Zittern machten mich mürbe. Schweißgebadet weinte ich vor mir hin. Wenn gerade nichts im Hause zum Essen gab, dann eilte Mutter zu der Kollektivfarm und holte ein Stück „Ölkuchen“ (Russisch: Schmüch), versteckt in ihrer Wattejacke. Das war ein Neben- bzw. Rest- oder auch Abfallprodukt von ausgepressten Zedernnüssen, Soja-, Mais-, Hanf, Raps-, Leidotter- und Sonnenblumensamen, der sich gut eignete zur Fütterung von Kühen und Ochsen. Mutter beging damit eine Straftat: Man durfte nichts von der Farm nach Hause nehmen, anderenfalls wurden die Mitarbeiter zur Rechenschaft gezogen.
Mit Heißhunger kam ich nie in meinem Leben zurecht.
Der sibirische Sommer ist verhältnismäßig heiß, manchmal erreichten die Temperaturen bis zu +40 °C. Mutter hütete nachts 200 Kühe und tagsüber brachte sie die Milch zur Fabrik, die von uns etwa acht Kilometer entfernt war. Sie bekam ein Ochsengespann, lud die Milchbehälter zu je 30 Litern auf den Wagen und ließ den Ochsen freien Lauf. Die Tiere kannten bereits den Weg, zweieinhalb Stunden hin und genau so viel Zeit zurück. Mutter lehnte sich zurück und schlief, sie ruhte sich auf diese Weise aus. Denn ab Abend musste sie mit den Kühen auf dem Feld sein. Meine Schwester und ich sahen sie tagsüber sehr kurz, sonst meistens am Sonntag. Wir schliefen auf ihrer Pritsche und waren quasi mehr oder weniger auf uns selbst gestellt.
Ich fühlte mich sehr naturverbunden und schlief im Sommer überwiegend im Wald. Mein kindliches Hirn versuchte nachts, den Lauf des Mondes und der Sterne zu ergründen. Ich lag auf dem Rücken, bewunderte die funkelnden Sterne, die in lauer Sommernacht äußerst romantisch waren bzw. sind. Meiner Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. Sicherlich war ich davon überzeugt, dass auf dem Mond oder irgendeinem Stern Menschen leben, oder gar höhere Wesen. Und bevor ich einschlief, murmelte ich vor mir hin: „Gute Nacht Muti, gute Nacht Schwester, alle Menschen auf Erden, auf dem Mond und Sternenhimmel.“ Wenn damals mir jemand versucht hätte auszureden, dass nur auf der Erde und nirgendwo sonst Menschen gebe, dann hätte ich es ihnen nicht abgenommen.
Wir hatten zu Hause eine Hündin und den Kater. Die Hündin war eine westsibirische Laika (das Wort heißt Deutsch „bellen“), die ich auf den Namen ‚Ira‘ taufte. Ira hatte ein dichtes schwarzes, mit weißen Abzeichen, Fell mit reichlich Unterwolle. Ihre stehenden, etwas seitlich angesetzten Ohren merkten sich jedes Geräusch im Wald und sie war stets zur Abwehr bereit. Es war faszinierend zu beobachten, wie sie sich mit ihrem aufgerollten Schwanz hinter einen Fuchs hermachte und ihn von meinem Nachtlager vertrieb. Mein sibirischer halblanghaariger Kater und die Laika verstanden sich gut. Ira lief stets voraus, der Kater stolzierte neben mir. Nachts lag er meistens auf meinem Bauch und schlief. Es störte ihn nicht, wenn ich mich auf die Seite drehte, dann legte er sich an meine Brust. So wärmten wir uns, wenn nachts die Temperaturen etwas nach unten gingen.
Meine Freunde waren im Sommer auch die pfeifenden, trillernden und gurrenden Wachteln, die Sperlinge, Krähe, die diebischen Elstern, Schwalben und besonders die Meise und Stäre. Ich ernährte mich überwiegend von Sauerampfer, einem Waldgemüse. Als es Waldbeeren gab, waren sie an der Reihe. Es gab reichlich Steinbeeren im Wald und auf den Wiesen sehr viele Erdbeeren. Kaum jemand interessierte sich, wo ich war und was ich tat. Zwischendurch kam ich nach Hause, um Brunnenwasser zu trinken und mich der Mutter zu zeigen. Sobald sie zur Arbeit ging, schnappte ich mir irgendein Buch und verschwand wieder. Lesen wurde mir mit fünf beigebracht.
Im Wald las ich laut die Kindermärchen vor mir hin, wenn ich nicht gerade meinen Bauch mit Beeren füllte und mit den Vögeln beschäftigt war. So wie ich mich erinnere, glaubte ich, der Tierwelt die Märchen mit etwas Stottern vorlesen zu müssen. Es hörte ja niemand zu, und mein imperfektes langsames „Vorlesen“ half mir, den Inhalt zu verstehen. Einer meiner Cousins sagte damals: „Dein Spatzenhirn kann es so wie so nicht verstehen, was Du da Silbe nach Silbe liest und vor dir her murmelst.“ Sein Kommentar brachte mich aber dennoch nicht vom Lesen ab. Nachhinein weiß ich, dass er selbst ein Legastheniker war. Er hatte eine Leseschwäche und Rechtschreibstörungen.
Eines Tages wurde ich von dem Dorfvorsteher auf der Wiese eines Waldes entdeckt, als ich gerade ein Nickerchen machte. Er weckte mich. „Warum schläfst Du auf der Waldwiese und nicht zu Hause? Es gibt doch viele Wölfe im Wald!“ Ich rieb mir die Augen und schwieg. „Es gibt viele Ameisen und andere Viecher, die dir in die Ohren und Mund kriechen könnten!“ Es hörte sich alles bedrohlich an. Ich war ja immer im Sommer barfuß gelaufen. Mutter hatte nie das Geld, mir Sandalen oder Schuhe zu kaufen. Mein Kater war sichtlich von der lauten Stimme des Dorfvorstehers nervös geworden. Er machte einen Buckel, fauchte und zeigte sich angriffsbereit. Die Hündin Ira war entsetzt über den ungeladenen Gast und bellte unaufhörlich. Dann stand ich schweigend auf, hob mein Märchenbuch vom Boden und sagte zu meinen Weggefährten: „Ira höre, bitte, auf zu bellen!“ Sie gehorchte und stellte sich zwischen meine Beine. Oh, ich vergaß zu sagen, mein Kater hieß ja Willi. „Willi! Niemandem wird wehgetan. Kommt!“ Ich entfernte mich mit meinen Vierbeinern vom Dorfvorsteher, indem ich mit ihnen im Wald verschwand. Der Dorfbewohner entfernte sich mit lauten Flüchen und versuchte, meine Mutter zu alarmieren. Das war nicht einfach, sie war unterwegs zur Milchfabrik.
Gegen abends war ich zu Hause. Ich jätete im Garten, als Mutter kam. „Kind, du hast mir ein Schrecken eingejagt. Der Dorfvorsteher erzählter, dass du auf der Waldwiese geschlafen hast“. „Ja, Mama. Ich war aber mit Ira und Willi“. „Trotzdem Kind, wenn ein Wolfsrudel vorbeikommt, kann es gefährlich werden“. „Mama, ich habe doch Ira und Willi dabei. Sie schützen mich“. In der Sommerzeit war es wirklich nicht gefährlich im sibirischen Wald. Es gab Wölfe, aber sie waren im Sommer eher menschenscheu. „Mama, es gibt so viele Beeren im Wald und ich mag sie“. Mutter nahm mich in die Arme und weinte. Sie wusste, was ich meinte. Zum Essen gab es sehr wenig. Doch, Mutter hinterließ uns beiden, mir und meiner Schwester, zu je zwei dicke Scheiben Schwarzbrot und etwas Milch. Der Organismus meiner Schwester vertrug die Milch nicht, sie trank am liebsten heißes Wasser oder Schwarztee. Die Milch kam so mir zugute. Wenn Mutter Zeit hatte, kochte sie uns eine Suppe mit Sauerampfer und paar Kartoffeln waren auch drin. Wenn auch das nicht mehr im Winter vorhanden war, bereitete sie uns ein Gebräu aus Brennnessel, der vorsorglich für den langen Winter aufbewahrt wurde. Das Gebräu schmeckte nicht so fein, soll aber gesund sein. „Gut, mein Sohn“, reagierte die Mutter: „Das nächste Mal nicht schlafen, sondern Beeren pflücken und nach Hause bringen“. Sie musste schon wieder zur Arbeit. Die Schwester hatte ihre Freundinnen, mit den sie Tanzen lernte und irgendwo mit ihnen herumlungerte. Ich blieb wie so oft mir selbst überlassen.
Ich rief Ira, der Kater war bereits da und wir machten uns auf den Weg. Ich musste mir einen anderen Schlafort suchen. Meistens waren es Büsche oder Wiesen inmitten eines Waldes. Die Sonne schien ziemlich lange, ging sie unter, dann war es noch lange hell. Ich hatte eine Menge Zeit, meine Übernachtungsstelle vorzubereiten. Als ich ein Backenhörnchen, ein sibirisches Streifenhörnchen entdeckte, vergaß ich von meiner Absicht. Sein raues, kurzhaariges und braunes Fell faszinierte mich. Der Rücken war längsgestreift. Ich zählte fünf schwarzbraunen und vier hellen breiten Streifen. Der lange Schwanz hing nach unten, als das Hörnchen auf dem Baum kletterte. „Ira ruhig!“, befahl ich meiner Hündin flüsternd, die bereit war, einen Sprung zum Schwanz des Tiers zu machen. Ira guckte mich traurig an und setzte sich neben meinen Füßen. Mein Willi zeigte sich uninteressiert und liebäugelte mit einer Maus. Wenn er satt war, spielte er mit den Mäusen herum und ließ sie schließlich laufen. Damals dachte ich manchmal: „Wie brutal doch mein Kater sei. Die Maus muss ja Todesängste ausstehen“. Manchmal unterbrach ich seine Spielerei, manchmal dachte ich einfach nicht mehr darüber nach und ließ ihm alle Freiheiten, die er so wollte.
Meine Aufmerksamkeit lenkte von dem Hörnchen plötzlich ein Steppenadler auf sich, der über den Baum in der Höhe schwebte. Es war für mich offensichtlich, er wollte sich das Backenhörnchen schnappen. Aber es muss die Gefahr gewittert haben und verschwand, sodass wir es nicht mehr sehen konnten. Ich mochte die sibirischen Steppenadler, der dem schell- oder Schreiadler sehr ähnlich ist. Wenn er seine Beute anvisierte, fiel er buchstäblich nach unten, ergriff die Beute mit seinen scharfen Krallen und tötete es. Nagetiere, Echsen, große Insekten, kleine bis mittelgroße Vögel und auch Aas dienten ihm zur Nahrung.
Diesmal hatte ich mich geirrt, der Adler war nicht hinter einer Beute her. Er hatte sein Nest auf dem Baum, wo das Hörnchen gerade war. Er ließ sich auf seinen Horst herunter und beobachtete uns mit seinem scharfen Blick. Ich näherte mich dem Baum. Der Adler wurde unruhig und fiel wie ein Stein auf mich herunter. Ira machte einen unerhörten Lärm. Der Kater fauchte, aber ich rannte um „mein Leben“ so schnell, wie ich nur konnte. Der Adler muss wohl zur Einsicht gekommen sein, dass ich keine Gefahr für ihn darstellte, kehrte zurück und setzte sich auf seinen Horst. Aber mit der Übernachtung im Wald war es für mich an diesem Tag vorbei. Im Dorf angekommen, ging ich zur Spielwiese, wo Jungs in meinem Alter Türsteher spielten. Ich schloss mich ihnen an. Zwei Jungs standen am Ende der Dorfwiese. Mitten oder im Zentrum der Wiese der Rest. Die Aufgabe war, dass der Ball von den Türstehern auf die Jungs in der Mitte geworfen wurde. Wer von den Türstehern am meisten die Jungs in der Mitte traf, hatte gewonnen. Um 23 Uhr lag ich in Mutters Pritsche und genoss den tiefen Schlaf. Die Vorschulzeit verlief eher unbekümmert und sorglos.