Hermann Hartfeld
Freitag, 17. Oktober 2014
Dienstag, 14. Oktober 2014
Hermann Hartfeld: Der erste Schock in der Gefängniszelle
Hermann Hartfeld: Der erste Schock in der Gefängniszelle: Der erste Schock in der Gefängniszelle Hermann 1962 Der Name Semipalatinsk (sieben Gemächer) stammt von den sieben buddhistischen...
Sonntag, 9. März 2014
Reaktion der russischen Protestanten auf die Krise in der Ukraine: Eine kritische Berichterstattung
Dr. William Yoder: Wie das war, als wir noch Brüder waren
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Wie russische Protestanten auf die Krise in der Ukraine reagieren
S m o l e n s k – Mit Trauer, Schweigen und mehreren Bet- und Fasttagen reagieren russische Protestanten auf die laufende Krise in den russisch-ukrainischen Beziehungen. Im Gottesdienst einer Moskauer Baptistengemeinde am 2. März drückte das Gebet eines Laienmitglieds die vorherrschende Nostalgie wie folgt aus: „Erinnere uns daran, wie das war, als wir noch Brüder waren!“ Eduard Grabowenko (Perm), leitender Bischof der pfingstlerischen “Russischen Kirche der Christen evangelischen Glaubens“, schrieb: „Wir schauen mit Angst und Schmerz auf die Entwicklungen in der Ukraine. Zwei Brudervölker mit einer gemeinsamen Geschichte und einem gemeinsamen Schicksal stehen am Rande eines bewaffneten Konflikts.“
Während Ukrainer in der Regel den autonomen und distinkten Charakter ihres Landes und ihrer Kultur hervorkehren, weisen Russen auf die Gemeinsamkeiten hin. Russen stellen sogar in Abrede, ob Russland und die Ukraine tatsächlich verschiedene Kulturen darstellen. Gegen Ende des neunten Jahrhunderts n. Chr. galt Kiew als die „Mutter der Städte der Rus“; lange vor Moskau galt Kiew als Hauptstadt und kulturelle Wiege des Ostslawentums. Russen würden das Streichen Kiews aus der kulturellen Gleichung etwa wie das Herausschneiden Triers aus einer Karte Deutschlands empfinden.
Diese zwei (?) Nationen sind auf jeden Fall heillos miteinander verwandt und verschwägert. Die Ukraine galt als „Bibelgürtel“ der ehemaligen Sowjetunion, und zumindest eine gewaltige Minderheit der protestantischen Kirchen- und Gemeindeleiter Russlands ist ukrainischer Herkunft. Das Gleiche geschieht in entgegengesetzter Richtung: Ein führender baptistischer Verfechter ukrainischer Souveränität ist der junge Kiewer Theologe Michail Tscherenkow – ein Russe aus Samara/Wolga.
Im Allgemeinen tritt die protestantische Führung der Ukraine für die Linie der prowestlichen und pro-EU-Parteien ein. Am 3. Juli 2012 unterzeichneten Wjatscheslaw Nesteruk und Grigori Komendant, der gegenwärtige und ehemalige Präsident der „All-Ukrainischen Union der Kirchen der Evangeliumschristen-Baptisten“
In einer Stellungnahme vom 11. Dezember 2013, distanzierten sich junge, baptistische Theologen von Nesteruk, nachdem er seine Kirche als „unpolitisch“ bezeichnete und versichert hatte: „Auf dem Maidan sind wir nicht aktiv.“ Eine protestantische Stellungnahme vom 11. Februar 2014, die die Protestbewegung vehement bejahte, trug dann die Unterschrift von Nesteruks Stellvertreter: Waleri Antonjuk. Ein ökumenisches Papier vom 2. März, das Russland dazu aufrief, „seinen Verstand wieder in den Griff zu bekommen und die Aggression gegen die Ukraine einzustellen“, trug dann wieder die Anschrift Nesteruks.
Die politischen Auseinandersetzungen in der Ukraine haben stets die größte Kirche des Landes, die “Russisch-Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats”, gegen alle anderen aufgebracht. Eigentlich nur in Russland genießt die ROK-MP die gelegentliche Unterstützung von Protestanten. In einem Aufsatz vom 2. März geißelte Tscherenkow Russland als „eine tschekistische Staatsmaschine mit einer tschekistischen Kirche“, die von einem „Kreuz mit Bajonett“ bestimmt werde. Dabei forderte er die Protestanten Russlands dazu auf, die politische Verteidigung der Ukraine aufzunehmen.
Doch nur wenige Tage zuvor am 25. und 26. Februar hatte in Sankt Petersburg der Baptist Witali Wlasenko gemeinsam mit dem orthodoxen Metropoliten Ilarion (Alfejew) und Pawel Pezzi, dem römisch-katholischen Erzbischof von Moskau, eine Tagung des „Christlichen Interkonfessionellen Beratungskomitees für die GUS-Staaten und das Baltikum“ (KhMKK auf Russisch) durchgeführt. Hinterher freute sich Pastor Wlasenko, Direktor für Außenbeziehungen bei der Union der russischen Baptisten (RUEBC): „Wir erlebten eine tolle Gemeinschaft, und alle Gruppen, die anwesend waren, bekamen die Chance, aufzutreten.“ Vertreten waren auch nicht wenige lutherische Gemeinschaften. Die 1993 gegründete KhMKK lässt sich beschreiben als eine regionale, östliche Alternative zur von Genf aus geleiteten „Konferenz Europäischer Kirchen“.
Eine Art Gebets Anliegen, das am 4. März durch den Cyberspace schwebte, war von Sergei Schindrjaew verfasst: „Es gab eine großartige Nachricht heute morgen. Als Antwort auf die russische Invasion haben die Vereinigten Staaten eine Flugzeugträgergruppe Richtung Schwarzes Meer entsandt, um auf Entwicklungen auf der Halbinsel Krim reagieren zu können. Der Super-Flugzeugträger „USS George H.W. Bush” sowie 17 weitere Schiffe und drei U-Boote haben am heutigen Nachmittag das Ägäische Meer passiert. Wir merken, dass Menschen aus der ganzen Welt sich nicht von der Ukraine abgewendet haben – wie es damals 1938 beim Anschluss Österreichs durch Hitler der Fall war.“
Der Blogger Schindrjaew, der sich offensichtlich nicht mehr in Russland aufhält, reagierte damit auf eine ausführliche Stellungnahme von Peter Kuzmic, einem anerkannten, kroatisch-slowenischen Professor des Gordon-Conwell Seminars im US- Bundesstaat Massachusetts. Kuzmic, wohl kein Freund der Aussöhnung zwischen Ost und West, berichtet von einem „amoralischen Zögern“ und schreibt, dass die USA „schon allzu lange mit Putin und seinen Satelliten freundlich umgangen ist. Doch die westlichen Staaten haben ihre Verurteilung unisono ausgesprochen – unmissverständlich und unerwartet streng.“ Kuzmic ferner streitet Staaten wie Russland, Indien und China das Recht ab, einen Machtblock neben dem Westen – siehe BRICS – aufzubauen. Die ROK-MP habe „unkritisch die größenwahnsinnigen Pläne (Putins) unterstützt, durch die Schaffung einer Euro-asiatischen Union, die es mit der Europäischen Union und den USA aufnehmen könnte, Russland als Supermacht wiederherzustellen“..Angesichts der grenz-übergreifenden Verflechtungen findet die neue ukrainische Regierung durchaus Unterstützung innerhalb der Grenzen Russlands. Unmittelbar nach der Wahl Alexander Turtschinows zum Übergangspräsidenten am 25. Februar schickte „WSECh“, eine lose, in Moskau beheimatete Koalition von überwiegend pfingstlerischen und Evangeliums-christlichen Denominationen, ihm einen herzlichen Gruß. WSECh nannte Turtschinow „unseren Bruder in Christo“ und versicherte, der neue Präsident werde „für Gesetz und Ordnung in der Ukraine einstehen“. Juri Sipko, ehemaliger Präsident der russischen Baptistenunion und politischer Kommentator, der heute nicht mehr für seine Kirche spricht, schrieb am 3. März: „Russland kann niemals die Schande, die von dreisten Lügen und Aggression gegen das ukrainische Brudervolk herrührt, abwischen. Es gibt niemals eine Rechtfertigung für die Gewalt. Eine bewaffnete Intervention in der Ukraine entbehrt jeglicher Rechtfertigung.”
Bischof Sergei Rjachowski, langjähriges Oberhaupt der charismatischen und pfingstlerischen „Vereinigten Russischen Union der Christen Evangelisch-Pfingstlerischen Glaubens“ (ROSKhWE) wird oftmals vorgeworfen, ein Mitläufer Putins bzw. ein Patriarch Kirill in protestantischer Ausführung zu sein. Doch seine Stellungnahme vom 4. März könnte einmal wieder auf sein staatsmännisches Format hinweisen: „Merken Sie bitte, wie die Spannungen angeheizt werden – nicht nur zwischen Bruderstaaten, sondern auch innerhalb unserer Kirchen. Wie wichtig es doch ist, dass politische und soziale Veränderungen nicht zur furchtbarsten aller diabolischen Provokationen führen: dass wir beginnen, einander zu hassen! . . . Wir dürfen nicht den verwerflichen Stimmen der Welt nachgeben; lasst uns unsere Einheit und den gegenseitigen Respekt aufrechterhalten.“
Doch Oligarchen in der Ostukraine haben bereits die Fronten von Janukowitsch nach Turtschinow gewechselt. Es bestehen Hinweise darauf, dass nicht wenige Ukrainer – auch Protestanten - sich ähnlich verhalten werden: Sie befinden sich im Wartestand und sind für beide Regierungen offen. Wer Stabilität, Arbeit, Behausung und soziale Gerechtigkeit zu bieten hat, kann sich ihrer Unterstützung gewiss sein.
Vorsicht: Politischer Kommentar
“Dank sei Gott, das diktatorische Regime ist eingestürzt!” frohlockte der Ukrainer Anatoli Kaluschni, Bischof der kleinen „Konferenz selbständiger evangelischer Kirchen“ auf Facebook. Doch Janukowitsch war nicht von der Straße, sondern von den europäisch-kontrollierten Wahlen am 7. Februar 2010 gewählt worden. Unterstützung für die verfassungswidrige Übernahme eines Staates durch ein politisches Segment des Landes auf Kosten eines zweiten Teils untergräbt die Behauptung, der Westen halte sich an die Regeln einer demokratischen Verfahrensweise.
Ich denke, es wäre äußerst schwierig, einen frisch eingetroffenen Marsbewohner – oder jeglichen, völlig neutralen und nichteingeweihten Außenstehenden – davon zu überzeugen, dass es sich bei den russischen Aktivitäten auf der Krim um eine „Invasion“ handele. Die Halbinsel Krim wurde 1783 Teil des russischen Reiches und wurde erst 1954 in die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik überführt. Eine Mehrheit ihrer Bewohner hält sich zu Russland, und ein Vertrag aus dem Jahre 1999 gewährt Russland das Recht, bis 2042 25.000 Soldaten auf der Halbinsel zu stationieren. Berichten zufolge liegt die gegenwärtige Truppenstärke bei 16.000.
Im Januar besuchte Malkhaz Songulashvili, Erzbischof der baptistischen Kirche von Georgien und Verbündeter des Kiewer Patriarchats der ukrainischen Orthodoxie, Kiew. In einem Brief vom 28. Februar begrüßt er die Bemühungen des ukrainischen Patriarchen Filaret (Denysenko), der NATO beizutreten: „Regelmäßig reist der Patriarch nach Europa und Amerika, um sich für die Integration der Ukraine in EU und NATO stark zu machen. Er erkennt darin eine Wiederherstellung historischer Gerechtigkeit.“
Es darf dann aber auch danach gefragt werden, ob das Streben nach einer Vervollständigung der militärisch-strategischen Einkreisung Westrusslands ein passendes, protestantisches Unterfangen darstelle. John Glaser, leitender Redakteur der „antiwar.com“-Website, weist darauf hin, dass bereits 12 zentral europäische Staaten, die einst zum Warschauer Pakt oder zur UdSSR gehörten (drei gehörten zur UdSSR), der NATO-Allianz beigetreten sind. Das letzte große Glied in der Kette, das noch fehlt, heißt Ukraine. Dieses Vorhaben steht im krassen Widerspruch zum unverbindlichen „Gentlemens Agreement“, das der Westen 1990 mit Michail Gorbatschow eingegangen ist.
Im September 2011 behauptete der US-Präsidentschaftskandidat Ron Paul, sein Land verfüge über 900 Militärbasen in 130 ausländischen Staaten. Dafür wurde er von der „Washington Post“ zurück gepfiffen – nach ihren Berechnungen handele es sich um nur 40 Staaten. Doch die Zahl von 900 Basen ließ die Zeitung gelten. Nach Wikipedia verfügt Russland über Basen in 11 Staaten. Doch nur einer dieser Staaten befindet sich außerhalb der ehemaligen Sowjetunion: Syrien. Die USA bemühen sich um die strategische Umkreisung Chinas – doch China hat noch keine ausländischen Militärbasen.
Glenn Greenwald, der in Brasilien stationierte Mitstreiter des „Moskauers“ Edward Snowden, schrieb am 3. März, dass imperialistische Mächte anderen Staaten nicht das gestatten, was sie selbst längst betreiben. Bezüglich der Auseinandersetzung auf der Krim meinte er: „Im wesentlichen protestieren die USA gegen die viel bescheidenden und weniger aggressiven Versuche Russlands, ihrem eigenen Weltspiel nachzuahmen.“
In der TV-Sendung “Face the Nation” versicherte US-Außenminister John Kerry am 2. März: „Im 21. Jahrhundert darf man sich nicht so benehmen, als ob man sich noch im 19. Jahrhundert befände, in dem man mit einer völlig fadenscheinigen Begründung ein fremdes Land überfällt“. Das rief den staunenden, in Moskau beheimateten Journalisten Robert Bridge auf den Plan: „Schließlich hat Washington mit seinem Überfall auf den Irak 2003 das Lehrbuch für die Verletzung der territorialen Integrität souveräner Staaten verfasst.“
“Ethischer Imperialismus“ ist ein neuer Begriff für den Versuch des Westens, sich unter der Fahne der selbst definierten „Menschenrechte“ global auszuweiten.
Seit 1903 verfügen die USA über eine Militärbasis auf dem abgeriegelten Gebiet von Guantanamo/Kuba. Ist jene Präsenz etwa legitimer als die russische Präsenz in Sewastopol? Im Wesentlichen hat die US-Außenpolitik ein Problem mit der Heuchelei. Evangelikale, die sich in der Ukraine und anderswo dieser Heuchelei schuldig machen, beschädigen ihre Glaubwürdigkeit in den Augen einer fragenden Welt. Tausende von Traktaten und Missionsreisen wiegen einen derartigen Vertrauensverlust nicht wieder auf.
Aber die Russen dürfen sich auch an die eigene Nase fassen. Das neue Russland war bisher nicht imstande, seinen Nachbarn – auch der Ukraine - ein attraktives Gesellschaftsmodell vorzuführen. In der Tradition des Potemkinschen Dorfes (das war auf der Krim, 1787) hat die russische Führung einmal wieder Schein mit Sein verwechselt. Die 50-Milliarden-Dollar-Rechnung in Sotschi steht einer Gesellschaft gegenüber, die unter der Last einer sträflich unterfinanzierten Bildung- und Gesundheitssystems ächzt. Ohne neue, humanere Prioritäten wird sich die Anziehungskraft Russlands im Ausland nicht verstärken.
Wie baptistisch ist Alexander Turtschinow?
Alexander Turtschinow (Ukrainisch: Oleksandr Tyrchnov) gehört zu den vielen Außenstehenden, die früh in der post sowjetischen Ära in den baptistischen Baum eingepfropft worden sind. Nach einer langen Wanderung durch die protestantische und charismatische Landschaft der Ukraine wurde er 1999 in der Kiewer Baptistengemeinde „Wort des Lebens“ getauft. Offensichtlich verfügt Turtschinow weiterhin über Beziehungen zur charismatischen „Kirche Christi“. (Beide Namen stiften Verwirrung, denn sie werden von mehreren Organisationen in der evangelikalen Welt verwendet.)
Im Jahre 1964 kam Turtschinow in einer säkularen Familie in Dnepropetrovsk/Ostukraine zur Welt. Er machte 1986 einen Abschluss im Fachbereich Metallurgie und begann seine politische Laufbahn als Chef der Abteilung für Agitation und Propaganda beim kommunistischen Jugendverband „Komsomol“ (1987-90). Doch dort setzte er sich rasch für eine Reform und Demokratisierung der Partei ein. Im Jahre 1992 siedelte er samt seinen politischen Mitstreitern nach Kiew um. Zwei Jahre später gründete er gemeinsam mit Pawlo Lasarenko, einem Geschäftspartner von Julia Timoschenko, die Partei „Hromada“. Seitdem ein enger Vertrauter Timoschenkos, gelangte er 1998 ins Parlament. Nachdem Lasarenko im Jahr darauf in einen Skandal verwickelt worden war, trennten sich Turtschinow und Timoschenko von ihm. Bekannt als ehrlicher Makler, sorgte der Baptist 2005 für Aufsehen, als er sieben Monate lang den Posten des Sicherheitschefs des Landes innehatte. Unter Timoschenko war er der leitende Vizepräsident des Landes von 2007 bis 2010.
Die “Wort des Lebens”-Gemeinde gehört der 125.000-Mitglieder-starken „All-Ukrainischen Union der Kirchen der Evangeliumschristen-Baptisten“
Dieser Bericht erwähnt ferner, dass während der vergangenen Proteste auf dem Maidan ein überbeanspruchter Turtschinow kein einziges Mal den Weg in den Gottesdienst fand. Einige Mitglieder, die auch auf dem Maidan aktiv waren, baten darum, dass die Gottesdienste knapp gehalten werden, damit sich ihr Erscheinen auf dem Maidan nicht ungebührend verzögert. Turtschinow läßt sich am besten als gelegentlicher Laienprediger bezeichnen – er ist nicht ordiniert. „Westi“ gibt zu Protokoll, dass sich seine Gattin, die Linguistin Dr. Hanna Turschinowa, bei schlechter Gesundheit befindet und selten zur Gemeinde kommt. Ihr Sohn Kirill (geb. 1994) ist Student und befindet sich öfter im Gottesdienst. Wiktor Ukolow, ein weiteres, führendes Mitglied der Partei von Turtschinow, „Vaterland“, kommt regelmäßig und singt im Chor gemeinsam mit seiner Frau.
Bei einer Begegnung mit Kirchenvertretern am 25. Februar äußerte Leonid Padun, leitender Bischof der charismatischen „Ukrainischen christlichen evangelischen Kirche“ die Hoffnung, dass die traditionelle Bevorzugung der Orthodoxen auf Kosten der Protestanten nun zur Vergangenheit gehört. In einem Bericht am Tag darauf schrieb er: „Alexander Turtschinow unterstützte uns und stimmt mit unseren Wünschen überein.“ Padun schrieb von einer „christlichen Welt“, die 30% der Landesbevölkerung ausmacht – doch diese Zahl läßt sich nur vertreten, wenn orthodoxe und katholische Mitstreiter mitgerechnet werden. Die Bevölkerung der Ukraine beträgt 45 Millionen.
Dem neuen Präsidenten ist schon vorgehalten worden, die Vergehen von Oligarchie und Mafia zu verdecken. Beispielsweise wurde er einst vor den Kadi gezerrt unter dem Vorwurf, Unterlagen über Semion Mogilewitsch vernichtet zu haben. Das FBI soll Mogilewitsch, der sich wohl überwiegend in Moskau aufhält, für einen der gefährlichsten Gangster der Welt halten (siehe Wikipedia). Der bereits erwähnte Pawlo Lasarenko verbrachte die Jahre 2006-12 in einem US-Gefängnis - nach einer Verurteilung wegen Geldwäsche, Erpressung und Betrug (siehe unseren Bericht vom 24.5.2013). Doch im genannten „Westi“-Aufsatz versichert Pastor Kunez, es steckten keine Oligarchen hinter der Finanzierung des massiven, neuen Kirchenbaus: „Turtschinow sagt, dass solche Finanzen schmutzig sind.“ Der leise und seriös wirkende Alexander Turtschinow ist wohl finanziell weniger kompromittiert als seine lautstarke und langjährige Mitstreiterin Julia Timoschenko.
Dr.phil. William Yoder
Smolensk, den 8. März 2014
Handynummer von Yoder wenn in Moskau: +7-916 874 5868
Journalistische Veröffentlichung Nr. 14-01, 2.457 Wörter
Freitag, 24. Mai 2013
Die Baptisten von Serbien und Russland gründen eine Partnerschaft von William Yoder
M o s k a u – Die Baptisten von Serbien und Rußland arbeiten an einer Partnerschaft mit einem kleinen Unterschied zu den sonst üblichen: es handelt sich um eine Partnerschaft zwischen zwei slawischen Ländern. Dieses Vorhaben wurde öffentlich durch die Anwesenheit von Witali Wlasenko (Moskau), Abteilungsleiter für kirchliche Außenbeziehungen bei der „Russischen Union der Evangeliumschristen-Baptisten“ , in der südserbischen Stadt Niš am 30. April und am 1. Mai. An diesen Tagen feierte die “Union der Evangeliumschristen-Baptisten von Serbien (Serbien Süd) den 1.700 Jahrestag des Edikts von Mailand. Zu den weiteren Ehrengästen zählten John Upton (Richmond/Virginia), Präsident des Baptistischen Weltbundes, und Akos Bukovsky (Budapest) von der Baptistischen Union Ungarns. Präsident der südserbischen Union ist Cedo Ralević. Sechzig Besucher waren bei den Feierlichkeiten zugegen.
Seit Jahrhunderten verstehen sich Russen und Serben als “Waffenbrüder”. Rußland hat immer wieder in Auseinandersetzungen mit den osmanischen und österreich-ungarischen Nachbarn für die Sache Serbiens Partei ergriffen. Aus den gleichen Gründen besteht ein besonderes Verhältnis ebenfalls zwischen Russen und Bulgaren – einer weiteren slawischen und orthodoxen Nation.
Der römische Kaiser Konstantin der Große kam um das Jahr 272 in Naissus – heute ein Teil der Stadt Niš – zur Welt. Nach Jahrhunderten brutaler Verfolgung von Christen sorgten er und sein kaiserlicher Konkurrent Licinius mit dem Toleranzedikt von 313 für eine politische Kehrtwendung historischen Ranges. Diese radikale Übereinkunft legalisierte den christlichen Glauben sowie alle anderen im Reich vorhandenen Religionen. Konstantins Taufe kurz vor seinem Tode im Jahre 337 machte ihn zum ersten, offiziell christlichen Kaiser. Doch verständlicherweise entsprach diese Gesetzgebung nur teilweise den Vorstellungen der späteren Täufer und der heutigen evangelischen Freikirchlern. Konstantin ließ sich später auf die staatliche Bevorzugung und Patronage einer bestimmten Religion ein. Ein derartiger „Konstantinismus“ bleibt bis heute ein ernsthaftes Problem in Serbien sowie anderen osteuropäischen Staaten.
Diese Jubiläumsfeier läßt sich als Hilferuf der kleinen, 700-Mitglieder-und-14- Gemeinden-starken baptistischen Union von Südserbien begreifen. Im Jahre 2006 wurden „nichttraditionellen“ Glaubensgemeinschaften wie Baptisten und Adventisten die Steuerfreiheit und ihr Status als religiöse Organisationen aberkannt. Beide waren seit mehr als einem Jahrhundert in Serbien aktiv. Diese „nichttraditionellen“ Konfessionen sind wiederholt der Gewaltanwendung durch kriminelle Gruppierungen ausgesetzt gewesen. Im Mai 2012 verschlechterten sich die Beziehungen weiter als Tomislav Nikolić, ein ehemaliger, leitender Politiker in der radikalen, nationalistischen Partei des angeklagten KriegsverbrechersVojislav Šešelj, das Präsidentenamt übernahm. Doch Serbien, ein offizieller Kandidat für die Aufnahme in die Europäische Union, wird seine religiöse Gesetzgebung modifizieren müssen falls das Land jemals Mitglied werden soll.
Serben stufen Katholiken als Kroaten oder Slowenen ein. Gemäß ihres Rufes hielten kroatische Katholiken Gebetswachen ab und stritten vehement für die Entlassung von Ante Gotovina und Mladen Markač - zwei Generälen, die vom Haagener Kriegstribunal zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren. Nach ihrer Freisprechung und Entlassung am 16. November 2012 wurden sie in Zagreb als heimkehrende Helden gefeiert. Die Serben reagierten mit Abscheu und Verzweiflung.
Freikirchliche Protestanten sind bekanntlich um viele Nummern kleiner – sie werden in der Regel als schmalspurige Agenten der NATO-Staaten abqualifiziert. Die Baptisten Serbiens fordern deshalb von ihren Landsleuten, daß sie endlich als eine legitime und genuine christliche Gemeinschaft anerkannt werden. In einer Stellungnahme unmittelbar nach den Feierlichkeiten in Niš schrieb die südserbische Unionsleitung: „Generell harrt das Edikt von Mailand weiterhin seiner Erfüllung. . . . Wir Baptisten . . ., eine Minderheit innerhalb der Minderheit, hoffen verstanden und akzeptiert zu werden als eine Kirche, die den Herrn Jesus Christus als den einzigen wahren Gott und Heiland verkündigt.“
In Moskau gab Wlasenko zu Protokoll, eine russisch-serbische Partnerschaft müsse Bemühungen um Vermittlung und Versöhnung in einem von Krieg und ethnischen Konflikten heimgesuchten Gebiet umfassen. Zu ihnen zählten Druck auf westliche Staaten und das Kosovo, eine Dokumentation zu liefern, die den Tausenden von serbischen Flüchtlingen eine Kompensation gewährt für die Häuser, die sie während der ethnischen Säuberungen im Kosovo nach 1999 verloren haben. Der Abteilungsleiter fügte hinzu, daß Beziehungen zwischen den Baptisten von Albanien und Serbien ebenfalls verbesserungswürdig seien. Die russischen Baptisten haben Erfahrungen im Umgang mit der Orthodoxie auf höchster Ebene und könnten helfen, Beziehungen mit der serbischen Orthodoxie aufzubauen. Eine der wenigen Begegnungen mit Orthodoxen zum Zeitpunkt dieser Feierlichkeiten ereignete sich in Belgrad als ausländische Besucher mit dem langjährigen, europäisch-gesinnten orthodoxen Journalisten und Vertrauten von Patriarchen, Živica Tucić, zusammentrafen.
Sogar Beziehungen zwischen Baptisten innerhalb Serbiens lassen zu wünschen übrig. Die größere „Union der baptistischen Kirchen in Serbien (Nordserbien)“ besteht aus 69 Ortsgemeinden mit etwa 1.983 Mitgliedern. Ihre Gemeinden befinden sich vor allem in Belgrad und im nordserbischen Gebiet von Wojwodina. Zwischen 1699 und 1918 gehörte dieses multiethnische Gebiet dem Reich der Habsburger an. Witali Wlasenko insistierte: „Wir werden Beziehungen mit beiden Unionen pflegen – wir sehen sie nicht als getrennte Größen an. Zwischen Serben und den Staatsbürgern von Serbien wollen wir nicht unterscheiden.“ Beispielsweise ist der Präsident der nördlichen Baptisten, Ondrej Franka (Bački Petrovac), slowakischer Ethnizität. Serbische und russische Baptisten sind auch keineswegs gewillt, eine Partnerschaft gegen den Westen zu bilden. Ein mögliches, von John Upton vorgeschlagenes Projekt betraf die Durchführung von englischsprachigen Sommerlagern für Russen und die Bewohner Serbiens. Die Lehrer dafür würden aller Wahrscheinlichkeit nach aus Nordamerika kommen.
Eine Volkszählung von 2002 ergab 80.837 Protestanten innerhalb der Grenzen Serbiens – ohne das Kosovo. Das ergibt einen Bevölkerungsanteil von 1,08%, was auch ungefähr den Proportionen in Rußland entspricht. Die Mehrheit dieser Protestanten sind Lutheraner slowakischer Herkunft im Gebiet Wojwodina; die Reformierten in diesem Gebiet sind meistens ungarischer Ethnizität.
Dr.phil. William Yoder
Smolensk, den 24. Mai 2013
“rea.org@mail.ru” oder “kant50@gmx.de”
Webseite „rea-moskva.org“; „www.baptistrelations.org“
Handynummer von Yoder wenn in Moskau: +7-916 874 5868
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William Yoder, Ph.D.
Smolensk, 24 May 2013
“rea.org@mail.ru” or “kant50@gmx.de”
Webpage: „rea-moskva.org“ or “www.baptistrelations.org”
Mobile for Yoder when in Moscow: +7-916 874 5868
Sonntag, 14. April 2013
Warum tragen Baptistinnen in Europa kein Kopftuch?
Warum tragen Baptistinnen in Europa kein Kopftuch?
Hermann Hartfeld führte in Kasachstan kontroverse theologische Gespräche
Almaty – Die Baptistengemeinden in Kasachstan sind auch nach dem Zusammenbruch der früheren Sowjetunion zum Teil von den damaligen Lebensverhältnissen geprägt. Diesen Eindruck gewann aus Russland stammende Baptistenpastor Hermann Hartfeld (Brühl bei Köln) während eines Aufenthaltes vor kurzem in Almaty, der größten Stadt Kasachstans. Dort führte Hartfeld theologische Gespräche mit leitenden Repräsentanten des kasachischen Baptistenbundes, der 2006 aus dem Baptistischen Weltbund und der Europäischen Baptistischen Föderation (EBF) ausgetreten war. So könnten die Leiter nicht nachvollziehen, dass die baptistischen Ortsgemeinden in Europa in strittigen Fragen wie etwa der Frauenordination oder vorehelichem Geschlechtsverkehr andere Entscheidungen fällen könnten als der nationale Baptistenbund, sagte Hartfeld der Zeitschrift "Die Gemeinde". Denn zu Zeiten der Sowjetunion hätten die sowjetische Bundesleitung der Baptisten die Souveränität der Ortsgemeinde abgesprochen. Diese Regelung gelte weiter.Hartfeld versuchte in seinen Gesprächen mit den Baptisten Kasachstans, darunter auch Präsident Franz Tissen (Saran), Verständnis für die Spiritualität der Baptisten in Westeuropa zu wecken, die von den Kasachen zumeist als liberal angesehen werden. So stößt es etwa auf Kritik, dass die Baptistinnen in Europa kein Kopftuch tragen. Hartfeld wies demgegenüber darauf hin, dass in einigen Brüdergemeinden in Deutschland durchaus die Tradition des Kopftuches gepflegt werde, aber nur beim Gebet. Doch hätten die Frauen zu biblischen Zeiten in der Gemeinde in Korinth kein Kopftuch sondern einen Schleier getragen. Dies sei ein Zeichen gewesen, dass sie unter dem Schutz ihrer Männer gestanden hätten und niemand sie anpöbeln durfte. Die Kopfbedeckung, so wie sie in vielen russlanddeutschen Gemeinden praktiziert wird, entspreche nicht dem Willen des Paulus. Die Juden hätten keine Verhüllung von Frauen gekannt.
Zur von den Kasachischen Baptisten abgelehnten Frauenordination teilte Hartfeld seinen Zuhörer nicht, dass schon der unter den Baptisten in Russland sehr geschätzte Autor des Buches „Glück des verlorenen Lebens“, Nikolai Chrapow, sich für die Segnung von Frauen ausgesprochen habe, die den Predigtdienst dann übernommen hätten, wenn die Ältesten im Gefängnis gewesen seien. Kritik übten die Baptisten Kasachstan an der ethischen Grundhaltung vieler Gemeinden im Westen, dass etwa Rauchen und der Konsum von Alkohol erlaubt sei, dass vorehelicher Geschlechtsverkehr toleriert und sogar homosexuelle Paare gesegnet würden. Er habe erklärt, dass bekannte Baptisten wie Johann Gerhard Oncken und Charles Spurgeon im Rauchen ein Ersatz für den Kaffeegenuss gesehen hätten. Damals seien die lebensbedrohlichen Folgen des Rauchens noch nicht bekannt gewesen. Baptisten in den USA sähen Tabakplantagen und Baptisten in Italien und Spanien ihre Weinberge als von Gott gegeben an. Vorehelicher Geschlechtsverkehr und die Segnung der homosexuellen Paare werde nur in wenigen Gemeinden toleriert, worauf die baptistischen Leitungen jedoch keinerlei Einfluss hätten. In Kasachstan gibt es etwa 290 Baptistengemeinden mit 11.000 Mitgliedern.
Klaus Rösler
Mittwoch, 6. März 2013
Semipalatinsk-21
Semipalatinsk-21
Der schwarze Gefängniswagen mit zwanzig Insassen war etwa
drei Stunden unterwegs. Ich hatte den Eindruck, dass niemand von uns das Ziel
der Fahrt wusste. Es saßen überwiegend junge Häftlinge auf den Bänken und
unterhielten sich. Ich hörte niemand fragen, wohin es eigentlich geht. Ich sah
alle prüfend an und fragte meinen Nachbarn über den Grund seiner Verurteilung.
Er lächelte mich freundlich an: „Ich habe mit der Frau des ersten Sekretars
unserer Stadt geschlafen“. „Quatsch“, reagierte ich: „Wie alt sind Sie denn?“
„Einunddreißig. Doch es ist wahr. Ich war der Liebhaber dieser Frau. Ihr Mann
erwischte uns in flagranti und man verhaftete mich. In der Anklageschrift stand
Eigentumsraub. In der Urteilsbegründung steht nicht einmal, welche Gegenstände
ich entwendet haben soll“. Ich glaubte ihn nicht, aber erinnerte mich an einen
Professor unter uns, der zu drei Jahren verurteilt wurde, weil er im
betrunkenen Zustand vom Balkon seiner Wohnung uriniert hatte. Unglücklicherweise
stand unter dem Balkon die Frau eines kommunistischen Beamten und ihre Frisur
bekam einiges von der Flüssigkeit ab. Den Professortitel musste er sich
abschminken.
Die Fahrt war ziemlich holprig, rutschig und staubig. Das
kleine vergitterte Fenster gab uns einen winzigen Blick nach außen. Es
schüttelte uns ziemlich durch. Es machte mir nichts aus. Die Ungewissheit
machte mir mehr
Angst und Sorgen. Ich war nie ein Held. Ich war immer ein Angsthase gewesen. Ich kämpfte mit
der Angst und versuchte, positiv zu denken. Es gelang mir wohl selten. Was
erwartet uns am Ende dieser Fahrt? Angst verkoppel mit Neugier nagte an mich
entsetzlich. Einer der älteren Gefangenen legte seine Hand auf meine Knie und
sagte: „Es wird alles gut, junger Mann. Wir haben solche Fahrten schon öfters
erlebt. Erzähle doch, bitte, warum bist du in dieses überaus strenge Straflager
gelandet.“
Ich dachte nach und sagte: „Ich weiß es wirklich nicht.
Ich wurde verhaftet, man fragte mich über meine Vergangenheit in der Stadt
Omsk. Es waren keine konkrete Fragen. Nie befragte man mich über über
religiösen Aktivitäten. Der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter taten so,
als wenn es für sie total unwichtig war. Was konnte ich auch über meine
Vergangenheit erzählen? Es waren jugendliche Träumereien und Fantastereien von
einer heilen göttlichen Welt. Meine Freunde und ich waren in den Augen unserer
Mitmenschen hoffnungslosen Utopisten. Die Kommilitonen nahmen uns nicht ernst .
Wir glaubten an das Gute im Menschen. Wir meinten, der Mensch sei nach dem
göttlichen Ebenbild erschaffen worden, also lebt in ihm der göttliche Funke.
Wir glaubten nicht im Marxismus, sondern in Jesus Christus die Lösung aller
Probleme gefunden zu haben-das Heil der Welt, das Reich Gottes auf unserem
Planeten. Wir glaubten und glauben, dass die Entfremdung von Gott eine
Entfremdung des Menschen von seinem Selbst, seiner Mitmenschen und seiner
Umwelt ist. Unsere Welt ist doch so wunderschön und gleichzeitig herrscht in
ihr so viel Bosheit, Ungerechtigkeit, Gewalt, Perversion, Neid und Herrschsucht.
Was ich in der Gefängniszelle erlebt, war so bestialisch, das es mir den Atem
verschlug.“
„Was hast du denn erlebt?“ Der Gesprächspartner siezte
und duzte mich. Ich war jünger als sie alle. Die Gefangenen wussten nicht so
Recht, wie sie mich ansprechen sollte.
„Ein Zellengenosse hatte Analverkehr mit einem Mann. Ich
fand die exhibitionistische Handlung derart bestialisch, dass sie mir den Atem
verschlug. Unsere Haustiere haben so etwas nie getan. Der Mensch entwürdigt die
Sexualität.“
Alle hörten plötzlich aufmerksam zu. Einer der Gefangenen
fragte: „Haben Sie die Werke von Peter Tschaikowski gesehen? Und welche?“
„Schwanensee, das Ballett in 4 Akten. Die Oper „Wakula
der Schmied“ in drei Akten“ und einige Symphonien,“ antwortete ich.
„Wussten Sie, dass er homosexuell war und bevorzugte es,
mit Knaben zu treiben?“
Diese Nachricht erschlug mich endgültig. Ich kam aus
einer fantasiereichen heilen Welt, die wir uns geschaffen hatten. Nun war ich
in die reale Welt angekommen. Olgas Vater sagte einmal: „Die Sexualtriebe
sprießen aus allen Poren des menschlichen Seins und beherrschen sein Leben. Sie
unter Kontrolle zu bekommen, haben selbst biblische Männer wie Mose, die
jüdische Könige David und Salomo nicht vermocht.“ Damals ignorierte ich sein
Statement. „Ich vermag alles, durch den, der mich stark macht“ schnappten wir
bei der Bibellese auf. Später stellten wir fest, dass diese Aussage zu einer
Floskel entarten kann.
Ein Mitgefangener fragte mich plötzlich:: „Was meinen
Christen mit dem stellvertretenden Tod Christi? Es macht doch wenig Sinn, dass
Gott seinen Sohn opfert quasi zugunsten der Menschheit?“
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen und schwer
erwischt und sagte: „Die Frage beschäftigte uns auch. Die Menschwerdung Gottes
in der Gestalt Christi war seine Identifikation mit seinem Geschöpf, mit jedem
von uns. Sein in der Bibel beschriebene Kreuzestod war ein Akt seiner sich aufopfernden
Liebe zu uns. Wissen Sie, als ich den Bericht über Alexander Matrossow las,
dachte ich an Christus. Ich weiß der Vergleich hinkt, aber immerhin. Am 27.
Februar 1943 an der Kalininer Front kroch Matrossow an den Hauptbunker der
deutschen Armee-Einheit heran und warf sich mit seinem Körper vor eine
Schießscharte und fand den Tod. Danach konnte der Bunker erobert werden. So ähnlich
lässt sich der Tod Christi erklären: Er starb, damit wir durch ihn zu Gott, zu
uns selbst, zu unserer Mitmenschen finden. Wir sind von der Schuld der
Gottentfremdung befreit. Wir dürfen es in Anspruch nehmen und Gott kann eine
heile Welt mit Hilfe der glaubenden Menschheit schaffen. Christi Auferstehung
zeigt uns, dass unser Leben mit dem Tod nicht endet. Übrigens ist der
Kreuzestod Christi nur im Zusammenhang mi der Opferdarbringung von Tiere der
jüdischen Bibel, das Alte Testament verständlich. Der Hebräer opferte ein Tier
im Tempel in Stellvertretung für sein Vergehen. Ich mochte ja so meine
Haustiere und fände es schrecklich, wenn eines von ihnen meinetwegen auf einem
Opfertisch sterben müsste. Denken Sie aber an Matrossow. Er warf sich mit
seinem Körper vor eine deutsche Schießscharte. Sein Tod machte doch Sinn. Er
starb stellvertretend für viele seine Genossen, die sonst durch den Kugelhagel
der deutschen Soldaten gestorben wären. Jesus Christus tat doch vielmehr.“
Die Zuhörer konnte wohl nachvollziehen, was Matrossow
tat, aber das mit Jesus? Einer zuckte die Schulter, ein anderer dachte darüber
nach und sagte: „Es ist und bleibt ein Mysterium, sagte meine Großmutter.“
Ich schwieg eine Weile. Dann sagte ich: „Wissen Sie, ich habe schlimme Fehler
in meinem Leben als Jugendlicher begangen. Ich betreibe
keinen seelischen Striptease, wenn ich das sage. Der KGB in Omsk verlangte, dass wir Verrat an diesen Christus, seinem Auftrag begehen und
atheistische Kommunisten werden. Gerade das konnten wir nicht. Es war uns wirklich egal, welcher
der christlichen Kirche wir angehörten, aber sie sollte eine
Kirche sein, die der Freudenbotschaft Christi Treue hält. Die Menschheit
darf und kann den Weg zu Gott finden. Wir brauchen das Reich Gottes auf dieser
Erde, anderenfalls macht das christliche Leben für mich persönlich keinen Sinn.“
Die jungen intelligenten Männer wollten vieles auch über mein persönliches Leben wissen. Es war für
sie unverständlich, wieso ein zwanzigjähriger junger Mann ohne Vorstrafen in
ein Straflager mit strengem Regime gesteckt wurde. Ich hatte keine Erklärungen
für sie parat, aber ich versuchte, ihnen meine Weltsicht so plausible wie nur möglich zu
erklären.
Sie dachten nach und schwiegen. Einer von ihnen
resümierte schließlich: „Ich verstehe nun, warum man euch ins Gefängnis
gesteckt hat. Ihr stellt eine Gefahr für den atheistischen Kommunismus dar. Meines Erachtens seid ihr für die
Kommunisten gefährlicher als alle politischen Dissidenten.“
Ich verstand das nicht und zuckte die Schulter.
Die jungen Männer sprachen dann unter sich über die
Wasserstoffbombe, Kernspaltung unter anderen mehr, wovon ich kaum eine Ahnung
hatte. Die lange Fahrt, das Reden, Zuhören und eine mich beängstigte Vorahnung machten
mich schläfrig, ermüdeten mich derart, dass ich eindöste.
Ich wachte auf, als der Wagen irgendwann stehen blieb. Ich
rieb mir die Augen und gähnte. Die Tür unseres Wagens öffnete sich. Wir sahen
Soldaten Spalier stehen. „Was nun“, kam blitzartig der Gedanke. Es folgte der
Befehl, den Wagen zu verlassen. Ein Offizier führte uns durch die
Soldatenreihen zu einem Stollenmundloch des Eingangsportals in die
Unter-Tage-Welt.
„Was erwartet uns im Atomgelände von Semipalatinsk“,
flüsterte einer der jungen Männer vor sich hin. Er wusste Bescheid, wo wir
waren, ich nicht. Seine leise Stimme wurde von allen wahrgenommen. Wir schwiegen und folgten dem
Offizier. Wo waren wir genau auf der geographischen Karte? Ich hatte den Atlas
in meiner Schublade des Nachtschränkchen für vier Insassen. Dieser Ort war im
Atlas nicht auffindbar.
Viel später werde ich erfahren, dass der jeweilige Stollen im
Balaplangebiet der Degelenberge lag und für Atombombentests vorgesehen war. Wir
erreichten eine Tür zu einem Bunker. Einer von uns sagte verwundert:
„Atombunker im Stollen? Das kann ja nur immer lustiger werden!“ Der Offizier
drehte sich zu uns, guckte uns an, verzog keine Miene und drückte den weißen
Knopf neben der Bunkertür. In Kürze zeigte sich ein Mann im zivil. „Oh, nun sind sie alle
da. Gut. Kommen Sie doch alle herein“, lud er uns, wie ich meine, freundlich
und sachlich ein.
Wir sahen uns im riesigen Bunker um. Die Wände waren aus
massivem Stahlbeton. Den Wänden entlang standen Bänke, mitten Stühle, vorn ein
Tisch aus Metall, wie übrigens auch die Bänke und Stühle. Wir sollten auf den
Bänken Platz nehmen. An der Wand hinter dem Tisch war ein riesiger Bildschirm.
Alle Arbeiten und Bewegungen in diesem Stollen, eigentlich ein riesiger Tunnel,
wurden angezeigt. Der Mann im zivil drückte einen Knopf und der Bildschirm wurde schwarz.
Der Offizier setzte sich an den Tisch und übergab dem Mann im
zivill eine Mappe. Sie
sprachen leise miteinander. Wir hörten nur einige Fetzen und konzentrierten uns
auf andere Dinge, die wir interessanter empfunden haben. „Ein Bunker im
Stollen? Wozu?“ kamen immer wieder die Gedanken bei uns auf.
Wir rätselten über den hermetisch abgedichteten Bunker, der mit speziellem Luftfilter
- und wie es aussah – mit eigener Strom- und Wasserversorgung versehenen war. Denn die Luft im Bunker
war viel frischer und sauberer als im Stollen. Dies bemerkten wir sofort. Es
standen riesige Stahlschränke, auf deren Türen Beschriftungen standen „Ordner“,
„Lebensmittel“, „Geräte“ und vieles mehr.
Unsere Gedanken unterbrach der Mann in zivil: „Mein Name ist Mironow.
Sie bekommen gleich im Nebenraum Mittagessen und werden in Arbeitsgruppen
eingeteilt“. Die Nebenräume haben wir absolut nicht bemerkt. Stahltüre öffnete
sich auf Knopfdruck und wir betraten einen Essraum. Tische und Bänke wiederum
aus Metall. Auf den Tischen standen Schüssel und daneben lagen Löffel. Große
Behälter mit Suppe und Grießbrei waren auf dem Tisch. Dieser stand an der Wand
gegenüber dem Eingang. Schweigend bedienten wir uns. Währenddessen brachte ein
Mann in Militäruniform bereits geschnittene Leibe Brot und legte sie in die
Mitte der einzelne Tische.
Das Essen schmeckte ganz anders als in der Strafkolonie. Wir durften uns
bedienen so oft, wir wollten. Ich glaube, ich hatte noch nie zuvor so viel
gegessen.
Nach dem Mittagessen wurde ich einem Markscheider zugeteilt. Die
übrigen Gefangenen hatten viel bessere Bildung als ich, wie es sich
herausstellte. Sie wurden den diversen wissenschaftlichen Abteilungen
zugewiesen. Sie waren alle Atomphysiker, die in Tscheljabinsk-40, dann -65
gearbeitet hatten und sich irgendwelcher Delikte schuldig machten und nach
Semipalatinsk gebracht wurden. Ich fand es nie heraus, was diese Atomphysiker
falsch gemacht haben sollten.
Wir durften nicht miteinander über unsere Aufgaben reden.
Später haben wir erfahren, dass zehn zivile Wissenschaftler im Krankenhaus
lagen. Sie sollen an Petechien gelitten haben. Ich hörte von dieser Krankheit
von Olgas Cousine. Sie hatte punktförmige Haut- bzw. Schleimhautblutungen aus
den Kapillaren in der Haut. Ihr fielen auch bereits die Haare aus, als ich sie
das letzte Mal sah. Sie starb im Delirium in irgendeinem Krankenhaus weit weg
von unserem Ort. Sie war auf diesem Atomwaffentestgelände tätig. Ich erfuhr es nie, welche Aufgabe sie
innehatte.
Interessanterweise sah die Bevölkerung der Stadt Semipalatinsk
den hell leuchtenden Feuerball, wenn ein Atombombentest durchgeführt wurde,
aber kaum einer von uns dachte damals an irgendwelche gesundheitliche Schäden,
die durch diese Tests an uns hätten entstehen können. Proteste, wie wir sie im
Westen kennengelernt haben, gab es nicht. Dafür sorgte der Inlandgeheimdienst,
der die Bürger auf ihre Gesinnung hin streng überwachte und „rechtzeitig“ agierte,
falls jemand auch nur einen kritischen Kommentar darüber machte.
Ich hörte von unseren Glaubensgenossen aus der Stadt Omsk,
dass ihre Verwandten mit deren Familien in Tscheljabinsk-65 lebten, später
Osjorsk genannt, achtzig Kilometer von der Stadt Tscheljabinsk entfernt. Einige
arbeiteten in dem Uran-Grafit-Reaktor, andere in der radiochemischen Anlage zur
Aufbereitung des im Reaktor produzierten waffenfähiges Plutonium für die
Kernwaffenproduktion. Dass einige Zehntausende Zwangsarbeiter an den
Konstruktionsarbeiten teilgenommen hatten, war für niemand von uns ein
Geheimnis. Das gesamte Gebäude des sowjetischen Systems stand meines Erachtens
auf dem Fundament aus Knochen der Zwangsarbeiter und musste früher oder später
kollabieren. So dachte manche von uns „heimlich“, aber kaum jemand sprach diesen Gedanke
aus.
Mein Arbeitstag begann. Der Markscheider, namens Boris, war
ein sehr gut ausgebildeter Vermessungsingenieur. Er gab mir ein Nivelliergerät in die Hand, hielt selbst das
Stahlmessband in der Hand und ging voraus. Ich verstand wenig von dem
Vermessungswesen untertage, aber nach und nach erlernte ich das Risswerk.
Technische Zeichnungen waren nie meine Stärke gewesen. Aber dieser Mann brachte
es mir mit sehr großer Geduld bei. Immer wieder sagte ich ihm frustriert: „Ich
schaffe das alles nicht. Ich bin zu doof dafür“ Er antwortete: „Du bist Deutscher.
Denke an die Worte des berühmten Philosophen Immanuel Kant: Ich kann, weil ich
will, was ich muss.“
Er gab mir Mut und Zuversicht. Wir fertigten ohne
elektrooptische Streckenmessungen Pläne, Karten und sonstige Unterlagen von
Stollen bzw. Tunnels, Hohlräumen und Bohrungen an und leiteten sie weiter. Ich
fragte Boris einmal: „Warum das Ganze? Es wird ja sowieso durch die
Atombombentests alles zerstört“. Er guckte mich ernst an und antwortete: „Es
ist hier nicht der Ort, Fragen zu stellen.“ Boris war sehr zurückhaltend,
wirkte auf mich introvertiert (in sich gekehrt), wortkarg, aber sehr
pflichtbewusst.
Es war für mich ein Übungsfeld, Messungen diverser Tunnele und Bohrlöcher mit
Boris durchzuführen und mit niemand darüber zu sprechen. Unterwegs zurück in
die Zone forschte ich meine Kumpel in Bezug auf ihre Ausbildung aus. Sie bestätigten
mir, Atomphysiker zu sein. Wir wurden gute Freunde. Die prekäre Situation hat uns
zusammengeschweißt. Die Männer erzählten mir aus ihrem Leben nichts. Sie
wahrten Diskretion und forschten mich nie aus über die Gemeindetätigkeiten am Ort. Sie wussten,
dass wir abgehört wurden.
Eines Tages kamen wir von der Arbeit in die Strafkolonie und auf die Atomphysiker warteten
einige Offiziere des Innenministeriums. Sie mussten ihre Sachen packen,
umarmten mich und gingen mit den Offizieren zum Tor. Es war bereits spät
abends. Einer von ihnen sagte mir: „Schön, dass du an die Heile Welt glaubst. Ich
kann als Physiker das nicht. Möge dein Gott dich schützen.“ Mir standen die
Tränen in den Augen. Ich mochte Trennungen von Freunden nie. Ich winkte ihnen zu und
seitdem sah ich sie nie wieder.
An diesem späten Abend wurden Nikolai und ich aufgerufen, uns
zur Abreise noch in dieser Nacht bereitzuhalten. Wir mussten von unseren
Glaubensgenossen Abschied nehmen.
Man lebte als Häftling immer in der Ungewissheit. Wohin wird
man gebracht? Wie werden die Umstände dort sein? Was erwartet uns dort? Die
Verabschiedung auch von den „Mitinsassen“ war erstaunlicherweise herzlich.
Einer der Häftlinge namens Michael, der nichts mit dem Glauben am Hut hatte,
hielt mich lange in den Armen fest und weinte bitterlich. Ich war total
perplex.
„Ich werde hier verrotten, aber ihr habt mir Mut gemacht,
weiterzuleben und Gott zu vertrauen!“ Ich guckte ihn irgendwie verloren an und
sagte zögerlich: „Wir haben nie mit Ihnen über Gott geredet!“
Er antwortete: „Euer Leben schrieb Bände und ich danke euch
dafür!“
Ich bat Iwan, Sergej,
Athanasius und Viktor, mit ihm Gemeinschaft zu pflegen. Jedoch auch Viktor und
Sergej mussten bald Abschied nehmen. Sie kamen in andere Straflager. Der alte
Reformadventist Iwan Lalujew, Athanasius und einige gläubig gewordene Häftlinge
blieben zurück.
Iwan kam nie frei. Er bekam einen Schlaganfall. Athanasius und Michael standen
am Sterbebett von Iwan, hielten seine Hände und beteten. Iwan erholte sich nie.
Er starb um Mitternacht.
Michael hatte keine
Verwandte und schrieb mir zwei Briefe. Er beschrieb alle Umstände, unter
welchen Iwan gelitten und gestorben war. Michael erkrankte an Lungenkrebs und verstarb im Straflager
von Semipalatinsk.
Nach meiner Entlassung suchte ich die Gräber von Iwan und Michael. Ich fand sie
nicht. Auf meine Anfrage hin bekam ich vom Innenministerium die Nachricht, die Häftlinge wären beerdigt worden an einem unbekannten Ort.
Freitag, 8. Februar 2013
Der erste Schock in der Gefängniszelle
Der erste Schock in der Gefängniszelle
Hermann 1962 |
Der Name Semipalatinsk (sieben Gemächer) stammt
von den sieben buddhistischen Tempeln der Kalmyken, die wohl vor 1616 errichtet
wurden. Gerhard Friedrich Müller (1705-1783) entdeckte 1734 auf dem Ostufer des
Irtysch halbzerstörte sieben Gemächer dieser Tempel. Daran dachte ich unterwegs
ins Gefängnis, um mich abzulenken. Mir kam schnell auch die Geschichte des
Gefängnisses in Erinnerung. In den vielen Stunden meines Aufenthaltes in der
Stadtbibliothek suchte ich Spuren von Mennoniten, die anfangs des 20.
Jahrhunderts entweder hier wohnten oder verbannt wurden. Denn im Ausweis meiner
Mutter wurde der Geburtsort Semipalatinsk verzeichnet, obwohl sie behauptete,
in der Halbstadt bei Pawlodar geboren worden zu sein. Unsere Mütter brachten
vieles Durcheinander, was Ortschaften angeht. Die Namen aller ihrer
Lebensstationen verwechselten sie oft. In meinen Recherchen stieß ich auf die
Geschichte des Gefängnisses von Semipalatinsk.
Wappen von Semipalatinsk während Sowjetzeiten http://de.wikipedia.org/wiki/Semei |
Das Gefängnis wurde erbaut im Jahre 1773 zur
Zeit der Herrschaft der Katharina der II. Zu meiner Zeit wurde es als ein
architektonisches Denkmal bezeichnet. Meines Wissens befand es sich etwa drei
Kilometer vom Zentrum entfernt. Hinter den Mauern dieses Gefängnisses saßen
auch die berühmten kasachischen Schriftsteller und Politiker Mir Yakup Dulatov
(geb. 1885, verstarb im Lager Solowki 1935) und Achmet Baitursynov (geb. 1872,
erschossen am 8. Dezember 1937). Der russische Schriftsteller Fjodor
Dostojewski trat im Jahre 1854 seine
Militärpflicht im Rahmen seiner Verbannung 1854–1859 in Semipalatinsk an. Nach
seiner Ankunft wurde er vorübergehend auch in dieses Gefängnis gesteckt. „Ich
befinde mich in guter Gesellschaft“, schmunzelte ich. Ich muss wohl es halblaut
gesagt haben, weil der mich begleitende Offizier laut sagte: „Das Schmunzeln
wird dir dort vergehen.“ Ich zuckte wie immer die Schulter und schwieg.
Als ich die Zelle betrat, wurde ich begrüßt:
„Willkommen baptistischer Prediger!“ Ich war total überrascht: „Woher wisst
ihr, dass ich Christ bin?“ „Die Aufseher teilten es uns mit.
Übrigens hast Du deine
Anklageschrift dabei?“ Sie war in meiner Hand. Ich reichte sie ihnen. „Ein
baptistischer Prediger“, dachte ich nach: „Wie kommen sie nur auf solche
Gedanken?“ Es gab exzellente Prediger unter den russischen Christen, aber ich
mit meinen zwanzig hatte nie die Gelegenheit, ein Bibelstudium zu absolvieren.
Ich sah mich eher als einen lausigen Zeugen Jesu Christi.
„Ich möchte schlafen“, sagte ich und schaute
mich um. Es gab genau sieben Schlafplätze, in der Zelle waren zwölf Personen.
„Die Gefängnisse sind hoffnungslos überfüllt“, sagte einmal Olgas Vater. „Kein
Problem, junger Mann“, sagte ein Aksakal (weißer Bart), ein alter Kasache mit
einem ergrauten Bart: „Du kannst hier neben mir schlafen.“
Ich
hatte vorhin vom Aufseher eine Decke, ein Stück Seife und Handtuch bekommen.
Die Insassen warteten alle auf ihre Gerichtsverhandlung, deshalb wurden ihre
Köpfe und Bärte noch nicht abrasiert. Ich sah mich um, guckte auf die Wände und
Decke. Es waren interessante Texte von „Mama, ich liebe dich“ bis zu „wurde zu
lebenslänglicher Strafe verdonnert“. „Hm, habt ihr das alles gelesen“, fragte
ich die Zellenkameraden. Sie schüttelten verneinend den Kopf.
Ich legte mich auf die Bretter und schloss die
Augen. Nun standen vor meinen Augen die christlichen Jugendtreffs, die wir in
Sibirien veranstalteten. Wir suchte uns eine Wiese im dichten Wald, stellten
Wachposten mit Abstand von zehn Metern auf, die uns vorwarnen sollten, wenn die
sowjetischen Milizen irgendwo in der Nähe wären und auf uns lauerten. Man war
sich nie sicher, ob unter uns nicht doch einer wäre , der die kommunistischen
Behörden über unsere Aktivitäten informiert. Falls sie ankamen, zerstreuten wir
uns im Wald und sammelten Pilze oder Waldbeeren, die es reichlich im Sommer
gab.
Die Miliz konnte uns zu meiner Zeit niemals
überraschen. Das machte sie rasend. Wir mussten eines Tages wahrnehmen, dass es
unter uns Spitzel gab. Meistens wussten wir auch, wer es war und gaben der
Person die „verantwortlichsten Aufgaben“. Sie mussten uns für die Treffs im
Sommer den Wald aussuchen und Wiesen
inspizieren. Wir trafen uns jedoch ganz an anderen Orten. In der Tat, es war
unfair, aber wir erklärten der Person, dass es notwendig gewesen war, nach
Alternativmöglichkeiten Ausschau zu halten. Es gab für die Treffs ein gutes
Programm: Man bot Leiterschulungen an, Bibelarbeiten über aktuelle Themen und
man hat sehr viel Lobpreislieder gesungen. Mit diesen Erinnerungen schlief ich
ein.
Aus unbekanntes Kasachstan Web |
Ich
wurde morgens zum Frühstück geweckt. Es gab Grießbrei, Brot und Tee. Ich betete
und begann zu essen. Alle Augen waren auf mich gerichtet. „Betest Du oft am
Tag“, fragte der Aksakal. „Gedanklich sehr oft, ansonsten kommt es auf die
jeweilige Situation drauf an“. „Oh, wir Moslems müssen fünfmal am Tag beten“.
„Interessant. Tust Du es auch?“ „Nee“, antwortete der alte Mann: „Allah hört
auf mich sowieso nicht. Ich bin ein Dieb, betrüge den Staat und versorge auf
diese Weise meine achtköpfige Familie“. Er sah mein lächelndes Gesicht an: „Du
lachst. Du bist noch jung. Den Staat betrügen ist eine Tugend, man darf nur
nicht Menschen beklauen“.
Ich lernte in diesen wenigen Tagen eine Menge
“Lektionen“. Es gab auch Häftlinge, die unbedingt wissen wollten, ob wir
tatsächlich Kinder opfern würden, wie die kommunistische Presse berichtete.
Andere wieder wollten von unserer christlichen Tätigkeit erfahren. Ich war kein
aktiver Mitarbeiter in den Freikirchen der Stadt Semipalatinsk und sagte ihnen
nur, dass ich einzig Gottesdienste besuchte, viel Bücher in der Bibliothek las,
mein Unterhalt verdiente und sonst war ich ein passiver Christ.
Ein junger Häftling, wie ich, setzte sich neben
mir und begann, mich auszufragen über Jugend- und Bibelabende. Es waren
professionell gestellte Fragen, die mich aufhören ließen. Ich guckte ihm tief
in die Augen und sagte: „Was hat man dir für das Ausspähen angeboten?
Strafminderung? Ich interessiere mich doch auch nicht, ob Du ein verhasster
Taschendieb oder Hooligan bist, oder? Willst Du etwas aus meinem Glaubensleben
erfahren? Darüber gebe ich dir gern Auskunft. Andere Informationen bekommst Du
von mir nicht“.
Er sah sehr verlegen aus, als er aufstehen und
den Platz wechseln wollte. „Du bist ein Spitzel?“ Die Stimme des Aksakals war
ohrenbetäubend, sie schrie förmlich nach Rache. Sein Körper bebte , die Stimme
klang mehr als bedrohlich. Der alte Kasache war wohl das fünfte Mal im
Gefängnis und kannte die ungeschriebenen Regeln, die es unter Insassen gab: Ein
Spitzel wurde meistens hingerichtet. Die Kriminellen übten brutale und
kompromisslose Selbstjustiz aus. Davon hörte ich bereits in Omsk. Wir hatten in
der Stadt mehrere Straflager. Einige unserer Kirchenmitglieder arbeiteten als
Wärter im Gefängnis. Sie machten uns mit den ungeschriebenen Gesetzen der
Häftlinge vertraut. Nach dem lauten Schrei des Kasachen öffnete sich die
Zellentür und der junge Mann entfloh: Er wurde von Aufsehern weggeführt.
Aus unbekanntes Kasachstan Web |
„Warum tun Menschen das?“, fragte ein Insasse.
„Was meinst Du?“ „Ja, die Spitzelarbeit!“ Ich erinnerte mich an die Aussage des
Aristoteles und erklärte: „Es gab einen griechischen Philosophen und dieser
sagte: Die meisten Menschen wollen das Sittlich-Schöne, ziehen aber für sich
das Vorteilhafte vor. Es ist etwas Schönes, jemanden Gutes zu tun, ohne den
Gedanken an Wiedervergeltung, aber etwas Gutes sich antun zu lassen, ist
vorteilhaft. Der junge Mann wurde engagiert, uns auszuspionieren. Er sucht das
Vorteilhafte für sich. Das muss man verstehen können, aber nicht gutheißen. Nur
sollte man einen Spitzel nie töten. Es zu wissen, wer Spionage betreibt, ist
gut, dann kann man entsprechende Vorsichtsmaßnahmen ergreifen und
bedächtig und besonnen mit Worten
umgehen“. Der Aksakal nahm mich in die Arme und sagte: „So jung und schon so
viel Wissen! Gut gesprochen junger Mann“.
Wir wurden Freunde.
Im Mai 2009 versuchten zwei lesbische Frauen offiziell zu heiraten. Wikipedia |
Mich verwunderte es sehr, dass ein Mann unter
unseren Pritschen schlief. Er hatte eine Schüssel aus Aluminium wie wir alle,
aber am oberen Rand war ein Loch. Ich wurde neugierig: „Sagt mal Leute, warum
schläft der Mann unter den Pritschen? Wir könnten doch auch für ihn Platz
machen.“ Die Zellengenossen fragten verblüfft: „Siehst du denn nicht, dass er
ein Päderast ist?“ „Was heißt Päderast“, fragte ich doch eher heuchlerisch. Wer
von uns hörte damals von diesem Begriff nicht? „Er bevorzugt, dass man mit ihm
Analverkehr treibt“, erklärte der Aksakal. „Entschuldigung, aber ich verstehe
nicht, was ist Analverkehr.“
Ich hatte wirklich keine Ahnung, aber ich hätte
es lieber nicht sagen sollen. Ein Zellengenosse stand auf und sagte zu den
anderen: „Ihr hält Wache. Ich will es dem jungen Mann vordemonstrieren.“ Der
betroffene Mann nahm schon die Hose runter und stellte sich in die jeweilige
Pose stützend auf die Kante der Pritsche. Ich erschrak und verkroch mich in die
Ecke. Der andere Häftling übte Verkehr von hinten. Ich empfand es derart
erniedrigend, dass ich losschrie: „Hört, bitte, auf! Es ist doch zum Kotzen!“
Der sogenannte Päderast guckte mich erstaunt an und sagte: „Es geht mir gut. Ich
genieße es.“ Ich lief zum Kübel und
musste mich übergeben. Alle lachten laut los. Ich dagegen war innerlich verletzt.
Ich hätte mich vor Scham unter der Pritsche verkriechen können.
Ein Häftling setzte sich neben mir und stellte
sich als Biologe vor. „Hast du nie Geschlechtsverkehr praktiziert“, fragte er.
Ich hatte mein Gesicht in beide Hände vergraben und schüttelte den Kopf. „Du
bist Christ und die Bibel sieht diese Art von Sexualität als widernatürlich,
aber zurzeit des Apostels Paulus erfreute sich Analverkehr höchster Beliebtheit.
Paulus mit seinem ethischen Ansatz schwamm gegen den Zeitgeist, ob es immer
richtig war?“ Ich hielt es nicht aus: „Bitte, sagen Sie nichts mehr. Ich möchte
es nicht hören. Dieser Exhibitionismus ist doch widerlich!“
Nachhinein muss ich sagen, dass ich derart von
der jeweiligen „Aktion“ geschockt war, dass sie eine tiefe seelische Narbe in
mir hinterließ. Seit diesem Ereignis musste ich viel über das homosexuelle
Verhalten nachdenken. Mir schien es bei der jeweiligen Handlung, dass es den
Männern einzig um die Lustbefriedigung ging. Anhand meinen Studien bis dato war
ein Päderast kein Homosexueller, sondern ein Pädophiler. Ich erinnerte mich irgendwo den Begriff
gehört oder in einem der Bücher über die Päderastie im alten Griechentum
gelesen zu haben.
Ich hatte tatsächlich noch keinen
Geschlechtsverkehr gehabt, aber, was ich hier sah, war meiner Meinung nach exhibitionistisch
und abartig. Sexualität war in meiner Überzeugung ein Geschenk Gottes, die in
einer Verbindung zwischen Mann und Frau gelebt wird. Aber Analverkehr? Ich
konnte mich nicht mit dieser Art von Sexualität anfreunden.
Ein Zellengenosse konfrontierte mich mit der
Frage, warum ich so denken und empfinden würde. Mein erstes Argument war: „Es
wird bei diesem Verkehr auf widernatürliche Weise die falsche Körperöffnung
genutzt. Der Dickdarm ist der letzte Teil des Verdauungstraktes und nicht
geeignet für Geschlechtsverkehr“, sagte ich dem Häftling. „Was ich hier gesehen
habe, ist doch anatomisch falsch. Der After ist die Austrittsöffnung des Darmes
und kein Körper-Eingang. Durch den After verlässt der Kot den Darm. Ihr setzt
euch auf den Kübel, scheidet euren Kot aus, putzt den Hintern mit ein Stück
Zeitungspapier, und nun steckt ihr euer Glied in diesen Kot“, sagte ich empört.
Alle hörten zu und ekelten sich sichtlich. Sie schwiegen betreten.
http://www.kgb-gefaengnis.de/14-0-Bildergalerie.html |
Man führte sowjetische Häftlinge morgens und
abends in die öffentliche Toilette, aber bei Notdurft gab es in jeder Zelle ein
Kübel. „ich weiß“, fuhr ich fort: „ihr könnt euch nicht enthalten, weil der sexuelle
Trieb so stark ist. Ich sehe ja, wie ihr am Kübel euch befriedigt. Die Hand ist
aber auch kein Geschlechtsteil der Frau. Eure Selbstbefriedigung führt
höchstens zu einer seelischen Leere und zu Minderwertigkeitskomplexen, sie
befriedigt euch letztlich gar nicht. Seid doch mindestens ehrlich mit euch
selbst“.
In etwa zehn Minuten nach dem jeweiligen
Ereignis öffnete sich die Tür der Zelle und ein Offizier befahl: „Päderast,
mitkommen!“ Der Mann stand auf, nahm ruhig seine Schüssel und den Löffel und
ging mit. In zwei Stunden war der Offizier wieder an der Tür. Er zeigte mit dem
Finger auf die Person, die uns Analverkehr vordemonstriert e: „Kommen sie mit.“
Die Tür wurde wieder geschlossen. In der Zelle herrschte zuerst eine Totstille.
Dann sagte jemand leise: „Geschlechtsverkehr zwischen Männern wird laut dem sowjetischen
Strafgesetzbuch bis zu fünf oder acht Jahren Freiheitsentzug geahndet. Zudem werden
homosexuelle Personen anstelle von Gefängnisstrafen oft und auf unbestimmte
Zeit in psychiatrischen Kliniken untergebracht und zu einer medizinischen und
psychotherapeutischen Behandlung gezwungen.“
Ich wollte nichts mehr hören, legte mich hin
und zog die Decke über den Kopf. Ich konnte meine Tränen nicht halten.
Sexualität war für mich heilig, um gemäß dem Hohelied Freude an ihr zu empfinden
und die Fortpflanzung zu sichern. Sicher haben wir Studierende in der
Vergangenheit über die Sexualität ausführlich diskutiert, aber was ich nun
erlebte, empfand ich als eine Pervertierung des Lustempfindens. Wohl bemerkt,
ich war derzeit zwanzig Jahre alt.
Ich erzählte den Zellengenossen: „Noch als
Teenager sahen mein Onkel Gustav und ich, wie ein Mann es mit einem sibirischen
Pony getrieben hatte. Mein Onkel war für den Pferdestall der Kollektivwirtschaft
zuständig und machte sich mit der Gabel hinter den Mann her. Dieser lief davon
und versteckte sich im Wald und schämte sich, zurück zu seiner Familie und Frau
zu kehren. Mein Onkel sagte damals zu mir: „Erzähl es niemand. Er hat vier
Kinder. In unserem Land wird Sodomie mit Freiheitsentzug geahndet. Schade, wenn
seine Kinder darunter leiden müssten. Ich spreche aber mit seiner Frau.“ Mein
kluger Onkel sprach lange mit der Frau des Täters und bewegte sie, ihren Mann
aufzusuchen. Sie muss ihn gefunden, gesprochen und alles mit ihm geklärt haben,
weil die Familie erhalten blieb und in späteren Zeiten Christen wurden. Die
Pflicht des Onkels wäre gewesen, den Mann anzuzeigen, aber seine christliche
Nächstenliebe und die Empfindung der Barmherzigkeit überwogen, wie er mir
erklärte. Ich schwieg wie ein Fisch“, mit diesem Satz schloss ich den Bericht
ab. Ich sah auf die Häftlinge. Sie waren sehr nachdenklich und reagierten
nicht.
Die darauf folgende Nacht schlief ich sehr
unruhig. Ich schlief kurz ein, wurde von Albträumen geplagt und wachte wieder
auf. Mein Hirn spielte verrückt. Ich dachte und dachte über alles nach und fand
keine Antworten. Dient Sexualität nur, um Lustgewinn zu erzielen, war die
primäre Frage. Meine Beobachtungen zeigten, dass die zwanghafte
Selbstbefriedigung unter Studierenden zum Kontrollverlust, Machtlosigkeit und
Besessenheit von der Sucht führte. Ein Studierender wurde deswegen von unserer
Lehranstalt in die Psychiatrie eingewiesen. Auch der erotische Fetischismus kam
unter Studierenden vor. Man entdeckte eines Tages bei einem jungen Mann einen Büstenhalter,
den er für Stimulation bei Selbstbefriedigung nutzte. Er wurde ohne Widerrede exmatrikuliert.
Unsere kommunistischen Pädagogen sahen in solchen Handlungen starke psychische
Störungen. Sie kamen ins „Irrenhaus“, wie damals unter uns die Nervenanstalten
genannt wurden.
Die exhibitionistische Handlung der beiden Zellengenossen
war ekelhaft für mich. Noch nie erlebte ich so was. Ich kam mehr oder minder
aus einer geschützten Umwelt und fand in der klassischen Literatur niemals
Berichte über solche Handlungen. Man kann doch alles relativieren und dann ist
Sexualität doch nur eine Wegwerfware, resümierte ich.
Da in der Zelle die ganze Nacht das Licht
brennt, stand ich gegen morgens auf und ging zum Eimer mit Wasser, füllte
meinen Aluminiumbecher und wusch mein Gesicht. Der Tag verlief ruhig. In der
Ecke wurden Karten gespielt, was strickt verboten war. Häftlinge spielten, um
Gewinne zu erzielen, und wer nicht zahlen konnte, wurde vergewaltigt. Die Administration wollte diese Brutalität
vorbeugen und verbot solche und ähnliche Spiele. Währenddessen unterhielt ich mich
mit dem alten Kasachen, der viel von meiner Glaubenserfahrung wissen wollte. Er
verwendete zwar den Begriff „Allah“, aber wohl eher als Fremdwort.
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